Klimaschutz: Leopoldina verlangt von der Bundesregierung mehr Tempo

Windräder vor dem Braunkohlekraftwerk in Niederaußem im Rheinischen Revier


Foto: Federico Gambarini / dpa

Die Wissenschaftsakademie Leopoldina richtet einen deutlichen Appell an die Ampelkoalition, ihren Streit zu beenden und dringend erforderliche Reformen für den Klimaschutz und die Transformation der Wirtschaft auf den Weg zu bringen. »Der kritische Zeitpunkt, an dem Deutschland und Europa die Voraussetzungen für eine Erreichung der Pariser Klimaziele schaffen können, ist bald verstrichen«, warnen die Forscher der ältesten Forschungsvereinigung Deutschlands in einem Aufruf, der dem SPIEGEL vorliegt.

Auf 20 Seiten stellen sie sechs Leitideen auf, mit dem das Energiesystem von fossilen auf erneuerbare Quellen umgestellt werden kann. Die Veröffentlichung war ursprünglich für den Forschungsgipfel Ende des Monats geplant. Sie wurde vorgezogen, um die Verantwortlichen in der Bundesregierung auf ihrer Klausurtagung zu erreichen, die noch bis Montagmittag auf Schloss Meseberg bei Berlin stattfindet.


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Getragen ist der Bericht von der Sorge, dass die Ampelparteien aus ideologischen oder strategischen Erwägungen notwendige politische Schritte aufschieben, blockieren oder behindern. »Es gilt, jetzt die Anstrengungen deutlich zu verstärken und zu erweitern sowie durch konsequente Entscheidungen auf nationaler und europäischer Ebene die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation zu schaffen«, schreiben die Forscherinnen und Forscher.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen, den Schutz des Klimas sowie die Resilienz und die Unabhängigkeit der Wirtschaft bei Energieversorgung und Rohstoffen als dringendste Aufgaben in den Blickpunkt zu rücken. Die Strategien für diese Transformation müssten »von den zu erreichenden Zielen her konzipiert«, und daher »möglichst technologieoffen« sein. Sie sollten »die Attraktivität privater Investitionen« stärken. Die Rahmenbedingungen für Investitionen und deren Verlässlichkeit müssten »zentral«, also durch den Staat, geklärt werden.

Leopoldina-Ökonomin Grimm: »Der kritische Zeitpunkt, an dem Deutschland und Europa die Voraussetzungen für eine Erreichung der Pariser Klimaziele schaffen können, ist bald verstrichen.«


Foto: Stefan Boness / IPON / IMAGO

Damit kritisieren sie sowohl die Grünen in der Ampelkoalition, die möglichst klare technische Vorgaben wie etwa beim Antrieb von Autos geben wollen, als auch FDP-Positionen, die vor allem marktwirtschaftliche Kräfte anstelle staatlicher Regulierung favorisieren. Die Leopoldina-Forscher plädieren für einen pragmatischen Ansatz und fordern damit indirekt, den Streit etwa über Gasheizungen oder das Verbrenner-Aus zu beenden, wie er die Klausur in Meseberg überschattet.

Sechs Leitgedanken für die Transformation

Zur Orientierung geben sie den Kabinettsmitgliedern sechs Leitgedanken mit auf den Weg:

  • Sie fordern nach der ersten Phase der Transformation, in der die Energiegewinnung auf erneuerbare Quellen umgestellt wird, jetzt auch schon ein »Kohlenstoffkreislaufmanagement« vorzubereiten. Darunter verstehen die Leopoldina-Leute, überall dort in der Industrie, wo auch weiterhin klimaschädliches Kohlendioxid entsteht, dieses aufzufangen und zu verwerten, oder aber es in der Erde einzulagern. Diese in Deutschland bislang bekämpften sogenannten CCU- und CCS-Technologien müssten »neu diskutiert werden«. Die EU und Deutschland sollten ein »explizites Ziel zur Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre für 2050 formulieren«, schreiben sie in ihrem Diskussionspapier.

  • Die Bundesregierung und die EU sollten bei »Klimaschutzmaßnahmen von protektionistischen Elementen absehen und vielmehr auf eine Vertiefung der Kooperationen innerhalb der EU und mit Drittstaaten« setzen, schreiben sie. Damit spielen die Gelehrten auf den möglichen Handelskrieg mit den USA als Reaktion auf das dortige Transformationsprogramm »Inflation Reduction Act« an. Dieser bevorzugt klimafreundliche Produkte wie Elektroautos aus US-Produktion und könnte eine ähnliche protektionistische Regelung in der EU provozieren.


  • Das künftige System erneuerbarer Energiequellen dürfe nicht nur auf der Nutzung von grünem Strom basieren, sondern müsse auch molekulare Energieträger wie Wasserstoff, E-Fuels oder Biomethanol einbeziehen. Die Produktion dieser Stoffe werde nur zu einem Teil in Europa erfolgen. Folglich müssten »für den Transport die technischen und logistischen Voraussetzungen geschaffen werden«.

  • Von großer Dringlichkeit sei zudem, die Verteilung der erneuerbaren Energien sicherzustellen, sowohl in Form von Elektrizität als auch in Form von Molekülen.

  • Für den Übergang brauche es noch Stromerzeugungskapazitäten aus Erdgas, insbesondere weil der Strombedarf durch Elektroautos und Wärmepumpen sich vermutlich verdoppeln werde. Diese müssten zunächst mit Erdgas betrieben, perspektivisch aber auf erneuerbar erzeugte stoffliche Energieträger (Wasserstoff und Derivate) umgestellt werden, schreiben die Leopoldina-Vertreter.

  • Nicht ganz uneigennützig weisen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darauf hin, ihre Zunft möglichst umfassend in die Entwicklung der Technologien und auch den Aufbau und Einsatz einzubinden.

Zu den neun Verfassern des Berichts zählen der Präsident der Leopoldina und Klimageologe Gerald Haug, der Max-Planck-Klimatologe Jochem Marotzke sowie Ökonomen wie die Wirtschaftsweise Veronika Grimm und Otmar Edenhofer. Hinzu kommen Fachleute für das Energiesystem wie der Chemiker Robert Schlögl vom Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion in Mülheim an der Ruhr.


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