Seit mittlerweile mehr als zwei Jahren wird in Deutschland darüber diskutiert, ob und inwieweit Netzbetreiber im Falle von Netzengpässen in die Lade- und Heizvorgänge von Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen steuernd eingreifen dürfen. Damals wie heute argumentieren die Netzbetreiber, die Netzstabilität könne ohne solche Steuerungsrechte nicht weiter gewährleistet werden.
Und damals wie heute beschwichtigen sie, Komfortverluste oder gar Nutzungseinschränkungen seien bei Elektroautos und Wärmepumpen nicht zu erwarten.
Wer die Sorgen der Verbraucherinnen und Verbraucher als Ammenmärchen bezeichnet, wie Kerstin Andreae, die Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), dies bei WELT tat, und sie damit ins Reich der Fabeln und Legenden verweist, sollte dafür gute Argumente liefern. Schließlich sind Stromversorgung, Mobilität und Wärme grundlegende Bedürfnisse, die überall in Deutschland gewährleistet sein müssen – und das zu jeder Zeit.
Lippenbekenntnisse der Energiewirtschaft, Steuerungsrechte nur als Ultima Ratio nutzen zu wollen, reichen deshalb nicht aus: Vielmehr ist Verlässlichkeit gefragt. Nur so lassen sich Vertrauen und Akzeptanz der Verbraucher in und für neue Technologien, Elektroautos oder Wärmepumpen gewinnen – und in das Gelingen der Transformation zur Klimaneutralität ganz allgemein.
Gute Gründe lassen daran zweifeln, dass diese Verlässlichkeit mit den bisher vorliegenden Konzepten eingelöst werden kann: Den aktuellen Plänen der Bundesnetzagentur nach sollen zeitlich unbeschränkte Eingriffe in die Ladevorgänge für Elektroautos zugelassen werden.
Das haben Verbraucherschützer, Teile der Energiewirtschaft sowie Wärmepumpen- und Automobilindustrie zuletzt unisono kritisiert. Vor allem mangelt es an konkreten Garantien, dass Steuerungseingriffe des jeweiligen Netzbetreibers auf wenige Einzelfälle im Jahr beschränkt bleiben. Hinzu kommt: Es bestehen erhebliche rechtliche Zweifel, dass ein solches Vorgehen verhältnismäßig und mit EU-Recht vereinbar ist.
Masterplan für die Stromnetze
Klar ist: Angesichts der Dimension der bevorstehenden Herausforderungen für die Stromnetze ist das Prinzip Hoffnung der falsche Ansatz. Das machen diese Zahlen besonders deutlich: Der Stromverbrauch soll nach Plänen der Bundesregierung in den kommenden acht Jahren um vierzig Prozent ansteigen.
Die Anforderungen an die Stromnetze werden gar noch schneller steigen: Die Kapazität der deutschen Stromnetze wird sich bis zum Jahr 2030 verdoppeln müssen, um den volatilen erneuerbaren Energien und ihren Erzeugungsspitzen zu besonders sonnigen oder windreichen Zeiten gerecht zu werden. Eine Mammutaufgabe, die große Anstrengungen erfordert.
Notwendig ist deshalb jetzt ein umfassender Masterplan für die Weiterentwicklung der Stromnetze. Wesentlich sind vor allem drei Punkte, die mit konkreten Maßnahmen hinterlegt werden müssen.
Erstens: Die neue Deutschlandgeschwindigkeit muss endlich auch beim Stromnetz greifen. Der Masterplan Ladeinfrastruktur II der Bundesregierung sieht einen vorausschauenden Ausbau – das heißt einen am zukünftigen Bedarf orientierten Ausbau – der insgesamt fast zwei Millionen Kilometer langen Stromnetze vor.
Hier braucht es eine überzeugende Strategie, wie dieser vorausschauende Ausbau gelingen kann. Dabei steht die Bundesnetzagentur als Regulierer in der Verantwortung, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Investitionen in die Netze müssen für deren Betreiber auch in Zeiten hoher Inflation attraktiv bleiben können.
Zweitens: Es braucht ein klares Bekenntnis der Energiewirtschaft, die Netze vollumfassend zu digitalisieren. Um es klar zu sagen: Wenn der größte deutsche Netzbetreiber, Eon, öffentlich zugesteht, im Verteilnetz „mehr oder weniger blind zu sein“, und wenn die Netzbetreiber Elektroautos bis Ende 2028, und teils darüber hinaus, noch mithilfe von Zeitschaltuhren steuern wollen, dann gibt es bei der deutschen Energiewende unbedingten Handlungsbedarf.
Auch in dieser Hinsicht ist die Bundesnetzagentur gefragt, die Kosten für die digitale Ertüchtigung endlich adäquat anzuerkennen und angemessen zu vergüten.
Drittens: Für eine intelligente und künftig sogar bidirektionale Steuerung von Elektroautos sind marktliche Anreize gefragt. Denn: Elektroautos sind keine Belastung für das Stromnetz, sondern Teil der Lösung. Sie werden entscheidend dabei helfen, eine bezahlbare Stromversorgung sicherzustellen und die Stromnetze zu stabilisieren – wenn die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt werden.
Dazu gehören auch flexible Stromtarife, mit denen Elektroautos verstärkt dann geladen werden können, wenn erneuerbare Energien reichlich und kostengünstig zur Verfügung stehen. Über variable Netzentgelte können Ladevorgänge zudem in Randzeiten verlagert werden, wenn die Netzauslastung gering ist.
Die Verbraucherinnen und Verbraucher würden also finanziell davon profitieren, wenn sie sich auf freiwilliger Basis systemdienlich verhalten – die dafür notwendigen intelligenten Lademanagementsysteme sind schon heute vorhanden.
Von zeitvariablen Netzentgelten profitieren alle
Übrigens: 21 von 27 EU-Mitgliedstaaten haben bereits zeitvariable Netzentgelte eingeführt. Und auch für Deutschland bestätigen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen den volkswirtschaftlichen Nutzen dieser marktlichen Steuerungsinstrumente: Sie tragen dazu bei, die Stromnetze effizienter zu bewirtschaften. So können die Kosten für deren notwendigen Ausbau reduziert werden. Davon profitieren letztlich alle, auch Bürgerinnen und Bürger ohne Elektroauto oder Wärmepumpe.
Gemeinsam mit Verbraucherschützern, der Wärmepumpenindustrie und dem innovativen Teil der Energiewirtschaft wird sich die deutsche Automobilindustrie auch weiterhin mit Nachdruck für intelligente Lösungen einsetzen. Das gemeinsame Ziel ist eine sichere und bezahlbare Stromversorgung – damit die Sorge vor Stromrationierungen schon bald tatsächlich ins Reich der Fabeln und Legenden gehört.
Hildegard Müller ist seit dem 1. Februar 2020 Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA).
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Source: welt.de