Eine weiße Decke frischen Schnees liegt am Mittwoch über der mittelsächsischen Gemeinde Kriebstein. „Wir haben hier 2000 Einwohner, eine Burg, eine Talsperre und Papierindustrie“, referiert Bürgermeisterin Maria Euchler. Die parteilose Politikerin war – wie der ganze Ort – um die Jahreswende allerdings nicht wegen der hiesigen Idylle bundesweit bekannt geworden. Sondern weil sich eine Bürgerinitiative gegen die Unterbringung von Flüchtlingen wandte.
Rund ein Dutzend UMAs, was im Behördendeutsch für „Unbegleitete minderjährige Ausländer“ steht, sollten im Ortsteil Kriebethal in einem nicht mehr genutzten Altenpflegeheim unterkommen. Schnell schlugen die Wogen hoch. Mehr als ein Drittel der 600 Einwohner des Ortsteils wandte sich in einer Petition gegen das Ansinnen, und die Bürgermeisterin zeigte zunächst Verständnis dafür. Eine Zeitung porträtierte sie daraufhin vor dunklem Hintergrund. „Ich sah aus wie die Marine Le Pen von Kriebethal“, sagt sie in Anspielung auf die französische Rechtspopulistin. „Das war nicht fair.“
Aus der Öffentlichkeit hat sie sich deshalb aber nicht zurückgezogen. „Ich muss doch die Bedenken meiner Bürger erst mal ernst nehmen“, sagt Euchler am Mittwoch, als Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) die Gemeinde besucht. Seit vier Wochen leben zwölf der ausländischen Jugendlichen im Erdgeschoss des einstigen Pflegeheims. Sie sind männlich, 14 bis 17 Jahre alt und kommen aus Afghanistan, Burkina Faso, Syrien und der Ukraine. Zum Termin mit der Ministerin sind ebenfalls zwölf Leute gekommen: Bürgermeisterin und Landrat, die Leiterin des Jugendamts, Referatsleiter sowie Betreuer vom Deutschen Roten Kreuz (DRK), das die Einrichtung betreibt. Acht Mitarbeiter kümmern sich hier 24 Stunden lang um die Jugendlichen, die freilich auch selbst mit anpacken müssen: bei der Vorbereitung der Mahlzeiten oder beim Putzen.
Vormittags hätten sie Deutschunterricht, nachmittags gebe es ab und an Ausflüge, erzählen die DRK-Betreuer. Allerdings sei den Jugendlichen auch oft langweilig, sagt die Ministerin, die mit einigen von ihnen sprechen konnte. Die Langeweile ist auch die größte Sorge der Initiatoren des Bürgerbegehrens. „Da kommen die doch auf dumme Gedanken“, sagt einer von ihnen. Er wohnt schräg gegenüber der Einrichtung und gibt ausführlich und auch aufgebracht Auskunft, will aber seinen Namen nicht genannt wissen. „Die Leute sind wütend auf das Land, das DRK und die Bürgermeisterin“, sagt der 65 Jahre alte Mann. 260 Unterschriften habe man gesammelt, Briefe sogar an den Ministerpräsidenten und Köpping geschrieben mit der Bitte, keine UMAs im Ort unterzubringen. „Aber wir haben nicht mal eine Antwort bekommen“, ruft er empört. „Wir haben Angst!“
„Jetzt bauen wir das meist doppelt so teuer wieder auf“
Eine Bürgerversammlung mit Bürgermeisterin und Landrat habe an der Lage nichts geändert. Aber auch die Politiker sind an diesem Mittwoch alles andere als zufrieden. Die Kapazitäten, Asylbewerber unterzubringen, seien knapp, die Aufnahme von UMAs mit ihrem besonderen Betreuungsbedarf besonders kompliziert, die Einrichtung in Kriebethal aber für diesen Zweck immerhin gut geeignet, sagt Dirk Neubauer. Er war früher mal in der SPD, ist jetzt parteilos und seit einem halben Jahr Landrat – der einzige in Sachsen ohne CDU-Parteibuch. Es sei ein Fehler gewesen, die 2015/16 genutzten Flüchtlingsunterkünfte wieder aufzugeben, sagt er. „Jetzt bauen wir das meist doppelt so teuer wieder auf.“ Zudem sei es frustrierend, wenn Asylbewerber über das Land verteilt würden, die keine Bleibeperspektive haben. „Für die Akzeptanz der Integration ist das verheerend.“
Dem pflichtet Petra Köpping bei. Sie ist empört über die mageren Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels in Berlin und darüber, dass etwa die Frage der Finanzierung auf Ostern vertagt wurde. Für die Kommunen sei das schwierig, sagt die SPD-Politikerin, die früher selbst mal Landrätin war. Zugleich forderte sie „endlich Veränderungen in der Asylpolitik“. Dazu zählten eine deutliche Vereinfachung der Verfahren, die schnelle Erlaubnis für Asylbewerber, zu arbeiten und ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, mehr Herkunftsländer als sicher einzustufen, aus denen Menschen ohnehin kaum Chancen auf Asyl haben, sowie konsequente Rückführungen. „Es kann nicht sein, dass sich Länder, an die Deutschland auch Entwicklungshilfe zahlt, raussuchen, ob sie ihre Landsleute zurücknehmen oder nicht.“
Integration, sagt Köpping, sei nur dann erfolgreich, wenn die Bürgermeister kooperierten und die Bevölkerung einbezogen sei. Sowohl Maria Euchler als auch die Vertreter der Bürgerinitiative kritisieren jedoch, sie seien vor vollendete Tatsachen gestellt worden. „Wir hatten Alternativen angeboten“, sagt Bürgermeisterin Euchler. „Wir hätten zum Beispiel gerne vier Flüchtlingsfamilien aufgenommen, auch weil wir Kita- und Schulplätze frei haben.“ Zudem biete die Gemeinde seit 2015 vierzehn Wohnungen, zum Teil möbliert, auch für Asylbewerber an. Doch bisher habe das der Landkreis abgelehnt, weil es im Ort keinerlei Infrastruktur gibt. Jetzt jedoch soll es für die UMAs ausreichen. Das alles wiederum sei für die Leute nur schwer zu verstehen.
Ganz ähnlich sei es mit der Arbeit. Die Papierfabriken, gut hundert Meter von der Unterkunft gelegen, hätte für die Jugendlichen Arbeit, vormittags zwei Stunden. Doch das ist Asylbewerbern verboten. Landrat Neubauer versucht dennoch, aus der Not eine Tugend zu machen. Sein Landkreis hat gerade die 300.000-Einwohner-Grenze unterschritten, erklärt er. In den nächsten zehn Jahren werden weitere 20 Prozent Bevölkerungsverlust prognostiziert, allein im vergangenen Jahr blieben 600 Ausbildungsplätze unbesetzt. Deshalb will er Asylbewerber mit Bleibeperspektive für Jobs fit machen. „Gerade die jungen Leute wollen arbeiten“, schildert er seine Erfahrungen. „Und wir brauchen Jahre, um es ihnen zu ermöglichen. So schwinden Motivation und Akzeptanz.“
Er will deshalb jetzt ein im vergangenen Jahr stillgelegtes Berufsschulzentrum wieder aufschließen, dafür Meister aus dem Ruhestand holen, die den jungen Leuten in den vorhandenen Holz-, Metall-, und Kfz-Werkstätten schon mal Grundlagen lehrten und sie bei Eignung an Unternehmen in der Region empfehlen. Das wiederum gelte nicht nur für Asylbewerber, sondern auch für Deutsche, etwa Schulabbrecher. Für die Bevölkerung wiederum sei auch dieser Schwenk schwer zu erklären, sagt Bürgermeisterin Euchler. Erst werde die Berufsschule trotz Protests geschlossen, sodass einheimische Jugendliche weite Wege auf sich nehmen müssten, aber jetzt, wo Flüchtlinge da sind, ergäben sich auf einmal Möglichkeiten. Euchler sagt, sie sitze zwischen den Stühlen. Sie bekam Drohungen, weil sie die UMA-Unterkunft nicht verhindert hat, und sie wurde als „Nazi-Bürgermeisterin“ beschimpft, weil sie Verständnis für Sorgen der Einwohner zeigte. Entmutigen aber lasse sie sich nicht.
„Wir sind nicht ausländerfeindlich“, betont auch der Vertreter der Bürgerinitiative. „Früher hatten wir hier Mosambikaner und Vietnamesen, die hatten Arbeit, die hatten was zu tun.“ Es habe ein Klubhaus, ein Kino, Sportmöglichkeiten gegeben. „Aber das ist alles weg.“ An den Protestdemos gegen die UMA-Unterkunft, die es freitags im Ort gibt und die von der AfD und den rechtsextremen „Freien Sachsen“ befeuert werden, beteilige er sich bewusst nicht. Aber er spüre, dass bei manchen Leuten aus Wut Hass werde. „Der ganze Aufwand wegen zwölf Leuten, aber über die 260 Menschen, die sich Sorgen machen, wird einfach hinweggegangen.“ Ob er nicht mal mit den UMAs Kontakt aufnehmen wolle? Nein, das bringe doch nichts, die seien doch nach drei Monaten wieder weg, sagt der Mann. Auch zu einem Gespräch in Dresden, zu dem Ministerin Köpping die Bürgerinitiative inzwischen eingeladen hat, will er nicht gehen. „Wir hoffen nur, dass nichts passiert, aber enttäuscht sind wir von allen.“
Source: faz.net