Lang wird es nicht dauern, hat sie gesagt, eine Stunde vielleicht, obwohl die Liste lang ist. Zehn Strafbefehle, fünf Anklagen allein hier in Berlin. Nötigung, Widerstand gegen Staatsgewalt. Januar, Februar, Juli.
Ein kleiner, karger Raum im Amtsgericht Tiergarten. Es ist noch früh, vor der Tür sitzen gähnende Polizisten. „Am Tattag beteiligte sie sich an einer Blockade der Ausfahrt der Bundesautobahn 100“, liest der Staatsanwalt leiernd vor. „Das führte zu erheblichen Verkehrsbeeinträchtigungen in Form eines Rückstaus.“ Für jede Aktion die gleichen Behördensätze. „Nicht ganz unerhebliche Zeit“ kostete das Von-der-Straße-Tragen.
Offiziell, so ist der Plan, soll sie später etwas zur Anklage sagen. Aber eigentlich will sie erklären, warum sie das alles tut. Sie wartet, geduldig, angespannt. Sie war noch nicht vor Gericht, es geht um richtig viel, 145 Tagessätze. Das sind 145 Tage Haft für alle, die nicht zahlen. Fast fünf Monate. Aber was hier verhandelt wird, war längst nicht alles, wofür sie verurteilt werden könnte. Und je länger man weggesperrt ist, desto sinnloser fühlt man sich.
Miriam Meyer, 1992 in Hamburg geboren, wohnhaft in einem Dorf zwischen Lübeck und Kiel. Blondes Haar, heute eine gelbe Windjacke. Zusammengesunken sitzt sie vor dem Richter und sieht sehr jung aus. Bis Ende vorletzten Jahres noch Studentin, jetzt Minijob. Eigentlich hat Meyer einen Knochenjob, aber das sehen nicht alle so. Ständig raus auf die Straße, Weggetragenwerden, vor Kurzem wurde einem Freund das Schlüsselbein gebrochen, Strafanzeigen. Präventiv war sie im November schon einmal im Gefängnis, in München in der Jugendvollzugsanstalt.
Seit Ende Januar 2022 protestiert die Letzte Generation, binnen eines Jahres hat sie mehr als tausend Straßenblockaden organisiert, Stadien und Flughäfen lahmgelegt, Erdölpipelines abgedreht. Mehr als tausendmal kamen Protestierende in Polizeigewahrsam. Allein in Berlin zählte die Polizei bis Mitte Januar 262.700 Einsatzstunden mit den Protesten. Jetzt haben die Gerichtsverfahren begonnen.
Der Richter: „Hat das, was Sie tun, nun etwas bewegt?“ Ja. Was? „Mehr Menschen nehmen unsere kritische Lage wahr.“ „Aber ich frage Sie“, sagt der Richter, rechtschaffen verständnislos, „was hat es politisch bewirkt? Wäre es nicht viel sinnvoller, die Bevölkerung mitzunehmen, statt sie gegen sich aufzubringen?“ Nun, sagt sie, das haben Fridays for Future versucht. Millionen auf der Straße. Und was hat das bewirkt? Jetzt wird das Verbrenner-Aus verschoben. Wer in dieser Zeit etwas ausrichten will, muss sich ständig etwas Neues überlegen. Manches erfüllt dann seinen Zweck, manches nicht. Man weiß es immer erst danach. Das sagt sie allerdings nicht im Gerichtssaal. Hier sagt sie: „Wenn Sie eine bessere Idee für eine effektive Aktionsform haben: Bin ich gern dabei.“ Hat der Richter aber nicht.
Viele andere wiederum haben seit Monaten genaue Ideen davon, welcher Protest ergiebig und respektabel ist und welcher nicht. Die Methoden seien die falschen. Die Letzte Generation bringe Menschen gegen sich auf, statt sie für ihre Sache zu gewinnen. Eine soziale Bewegung dürfe sich nicht erdreisten, Kunstwerke mit Kartoffelbrei zu beschmieren. Oder ein Monument, auf dem das Grundgesetz steht, mit schwarzer Farbe.
Miriam Meyer sagt: „Ich mache, was gebraucht wird. Wenn das heißt, dass jemand den Feueralarm im Ministerium auslöst, mache ich das.“ Auch „Sondersachen“ wie Sich-einbetonieren-Lassen. Sympathie ist für den Knochenjob natürlich nicht zu erwarten. Aber als sie im Sommer Pipelines abdrehten, hat es niemanden interessiert. Es muss die Leute interessieren, sonst ist es sinnlos. Klar, sagt sie, ihre Eltern würden sich wünschen, dass sich irgendwann eine weniger polarisierende Protestform für sie findet.
Als sie im November in München inhaftiert war, hatte sie eine Stunde Hofgang am Tag und Zeit zum Nachdenken. In der JVA durfte man zwar Bücher ausleihen, aber auf der Liste standen nur Autor und Titel, man wusste also oft nicht: Bekam man einen Fantasyroman oder eine Liebesgeschichte? Die Aktivisten in Präventivgewahrsam haben eigene Regeln, keinen Kontakt zu anderen Gefangenen zum Beispiel. Aber die meisten Regeln gelten für alle Inhaftierten. Im Quarantänehof gab es ein Kräuterbeet. Meyer hat Zitronenmelisse gepflückt und sich Tee gemacht. Dann gab es Ärger, es war nicht erlaubt. Und wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt ein Disziplinarverfahren, Weltenretter hin oder her. Manchmal kam Post an, oft nicht. Sonst: Fernsehen ohne Fernsehprogramm. Schrecklich! Meyer klingt schon wie eine Knastexpertin.
Die Beweisanträge werden abgelehnt
Einmal sah sie im Fernsehen, wie eine Freundin auf dem Brandenburger Tor demonstrierte. Da fühlte sie sich nutzlos und allein. An einem anderen Tag hörte sie von Hausdurchsuchungen. Sie wusste sofort, die Polizei war auch bei ihren Eltern gewesen. Aber erreichen konnte sie ihren Vater erst Tage später. Präventivhaft gibt es in den Polizeigesetzen aller Bundesländer. In Berlin sind es maximal achtundvierzig Stunden. In Bayern sind bis zu dreißig Tage möglich, die noch einmal um einen Monat verlängert werden können.
Jetzt steht der Anwalt auf. Er sieht sehr jung aus, aber er spricht ohne Zögern, von Kipppunkten und der Vizechefin des Expertenrates für Klimafragen Brigitte Knopf, er zitiert sie: Die Erfüllung der Ziele des Pariser Abkommens ist notwendig, die politischen Maßnahmen sind nicht ausreichend. Er sagt: „Es werden Grundrechte eingeschränkt.“ Und die Folgen der Nichteinhaltung der Grundrechte seien eine Gefahr für die Freiheitsrechte der folgenden Generationen. Eine Missachtung des Grundgesetzes. Das ist wichtig für die Beurteilung von Meyers Taten.
Zum Beweis, dass die Aktionen der Letzten Generation geeignet sind, auf die politische Meinungsbildung Einfluss zu nehmen, führt der Anwalt Zeitungsartikel an. Er sagt: „Der Prozess der öffentlichen Meinungsbildung hat sich verstärkt der Frage gewidmet, wie effektive Maßnahmen gegen die Erderwärmung ergriffen werden könnten. Ein zuvor existierender Verdrängungsprozess wurde beendet.“ Die Beweisanträge werden abgelehnt.
Am selben Tag finden noch drei andere Verfahren gegen Aktivisten der Letzten Generation statt, es werden täglich mehr. In Berlin gibt es Richter, die Strafbefehle ablehnen und dies mit ausführlichen Begründungen belegen. Es gibt aber auch solche, die langsam genervt sind von all den Prozessen. Meyers Anwalt hat zu ihr gesagt: Mach dir keine Illusionen, da ist nicht viel zu holen. Sie wollen sowieso in Berufung gehen, brauchen eine Grundsatzentscheidung. Da spielt es keine Rolle, wie lange jemand ins Gefängnis muss.
Zeit für das Plädoyer der Angeklagten
Miriam Meyer hat schon damit gerechnet, als es losging. Es hätte ja zu Schnellverfahren kommen, man hätte sie einsperren können, um sie von der Straße wegzuholen. Ist aber nicht passiert. „Das hat mein Vertrauen in den Rechtsstaat erhöht“, hat Meyer am Tag vor der Verhandlung gesagt und sanft gelächelt. Und dann: „Ich glaube daran, dass es Pfeiler der Gesellschaft gibt, die nach und nach kippen.“ Eines Tages werde es nicht mehr darum gehen, was gerechtfertigt war. Kirchenvertreter stehen schon mit ihnen auf der Straße. Und drei Oberbürgermeister haben angekündigt, ihre Forderungen zu erfüllen. Die Justiz ist der nächste Pfeiler.
„Bitte schön“, sagt der Richter. Zeit für das Plädoyer der Angeklagten.
„Ich versteh die Welt nicht mehr“, sagt sie. „Ich versteh nicht, warum ich hier vor Gericht sitze. Ich blockier nicht gerne Straßen. Ich hoffe immer, dass es schnell vorbei ist.“ Ihre Stimme bricht, man hört sie bis in die letzte Reihe atmen. Der Richter schaut hin. Der Staatsanwalt hat einen Bildschirm vor sich, mit dem er sich ablenken kann. „Ich bin eigentlich sehr brav. Aber es hilft nicht mehr, ein paar Bäume zu pflanzen oder drei Windräder zu bauen.“ Sie weint. „Ich mach das aus Verzweiflung. Und weil es funktionieren kann.“
Vor der Bundestagswahl ging ein verstörender Hungerstreik durch die Medien. Da riskierten junge Menschen ihr Leben für ein Gespräch mit Olaf Scholz. Sie sahen beängstigend aus. Miriam Meyer hatte in der Schule gelernt, was der Treibhauseffekt bedeutet, hatte geglaubt: „Das passiert, wenn ich lange tot bin. Ansonsten würden wir ja was dagegen tun.“ Dann kamen Greta Thunberg und die ausgezehrten Jugendlichen.
Meyer war keine grüne Vorzeigeschülerin. Sie hat ein Auslandssemester in Neu Delhi gemacht und in Tibet schmelzende Gletscher gesehen. Ihr gefiel das buddhistische Ideal, alles für andere zu geben. Sie hätte sich einen Job bei einer Umweltorganisation suchen können. Sie hätte in die Justiz oder in die Politik gehen können. Aber sie glaubte, dafür keine Zeit zu haben.
Familiengründung kommt nicht infrage
Jetzt wohnt sie also bei ihren Eltern. Mit der Zukunftsplanung ist es nicht so leicht, seit sie ein volles Führungszeugnis und Schufa-Einträge hat. Wenn sie unterwegs ist, bezahlt die Letzte Generation die Übernachtungen. Gerichtskosten nicht, da wird gepfändet, deshalb lohnt es sich nicht, etwas zu besitzen. Sie hat sich darauf eingestellt, mit sehr wenig Geld zu leben. Familiengründung kommt nicht infrage. „Das war jetzt nicht so die Zukunft, die ich mir vorgestellt hatte.“ Welche Zukunft hat sie sich vorgestellt? Eine, in der sie auch mal ihren Neigungen nachgehen kann.
Vor der Tür sitzen immer noch die müden Polizisten. Es sind die Zeugen im Prozess gegen Miriam Meyer und dürfen jetzt entlassen werden, weil sie ihre Taten gestanden hat. „Ich hoffe auf Ihr Verständnis“, sagt der Richter, „dass Sie unverrichteter Dinge gehen müssen.“ Die Beamten sehen nicht überrascht aus.
Aus der JVA in München ist sie eine Woche früher als geplant herausgekommen. Damals, im Dezember, war eine Radfahrerin bei einem Unfall gestorben, während die Letzte Generation die Straßen blockierte. Die Aktivisten kündigten eine Pause an, man musste sie gehen lassen, der Gewahrsamsgrund war weggefallen. Danach ging es ihr nicht so gut. Aber sie kennt auch Leute, die sich mit einer Angststörung auf die Straße setzen. „Bei uns sind die besonders Verzweifelten.“
Der Staatsanwalt will sie in fünf Fällen der Nötigung schuldig sprechen lassen. Die Maßnahmen seien nicht geeignet, das politische Geschehen zu gestalten. „Meine persönliche Auffassung ist durchaus in Übereinstimmung mit der Angeklagten. Das ändert aber nichts an der rechtlichen Beurteilung.“ Dann beantragt er die Einziehung von zehn Tuben Sekundenkleber. „Die sind eh leer“, sagt der Anwalt. Miriam Meyer wird zu siebzig Tagessätzen je fünfzehn Euro verurteilt. Der Richter nickt gütig zu ihr herunter. Sie tritt vor die Tür. Das war besser als erwartet. In einem anderen Verfahren am selben Tag bekommt ein Aktivist 80 Tagessätze für eine einzelne Aktion. Sie sieht erleichtert aus, nicht fröhlich. Es kann weitergehen.
Ein paar Wochen später kippen die Aktivisten ihre schwarze Farbe auf das Denkmal mit den Paragraphen des Grundgesetzes. Öl soll es sein, weil die Bundesregierung mit ihrer verfehlten Klimapolitik die Grundrechte missachte. Ein neuer Medienmoment, ein neuer Versuch, kann gut gehen – oder auch nicht. Das Entsetzen ist groß. Von Taliban-Methoden ist die Rede. Auch solche, die bisher wohlwollend auf die Proteste schauten, sind empört. Die Innenministerin Nancy Faeser nennt es eine „unwürdige Aktion“.
Miriam Meyer fand sie „nicht schlecht“. Sie ist gerade wieder auf dem Weg nach Berlin. In der letzten Zeit war sie wegen der Nachwirkungen der Haft „noch nicht so belastbar“, jetzt geht es wieder. Es hat sie alle überrascht, dass die Denkmalölung so viel Resonanz bekam. Aber dass die Aktion die Doppelmoral jener entlarvt habe, die selbst die Gesetze nicht einhielten, sei doch ein guter Ansatz für die Diskussion.
Source: faz.net