Geleakte Corona-Chats: Tiefe Gräben bei den Tories

Die Zahl der englischen Schüler, die dauerhaft den Unterricht schwänzen, ist nach der Corona-Pandemie auf fast 120.000 gestiegen. Das sei, teilten Fachleute in dieser Woche dem Ausschuss für Erziehung des Unterhauses mit, fast eine Verdoppelung, gemessen an den Erhebungen vor 2020. Dies ist eine der anhaltenden Folgen des Covid-19 Ausnahmezustands, der in England später einsetzte als in den meisten anderen europäischen Ländern, und dessen Ende vergleichsweise früh, vor mehr als einem Jahr, ausgerufen wurde. Gesichtsmasken und Abstandsregeln sind aus dem Londoner Stadtbild schon lange völlig verschwunden.

Ein anderes Long-Covid Phänomen, der Vertrauensverlust des politischen Publikums in seine Regierung, hat sich jüngst erst dadurch verstärkt, dass die Zeitung Daily Telegraph in einer Art Serie Tag für Tag viele tausend vertrauliche Whatsapp-Mitteilungen veröffentlicht, die in den Tagen der Pandemie zwischen Ministern der damaligen Regierung Boris Johnsons hin und hergingen.

Fotos aus Ministerbüro enthüllt

Dass die Quelle dieser Indiskretionen das Mobiltelefon des früheren Gesundheitsministers Matt Hancock ist, verstärkt das Interesse. Hancocks ehrgeizige politische Laufbahn endete im Sommer 2021 während eines von ihm selbst befürworteten Lockdowns abrupt, nachdem Fotos einer Überwachungskamera aus seinem Ministerbüro enthüllten, dass er dort – entgegen der geltenden Isolierungsregeln – seine Mitarbeiterin und heimliche Freundin küsste.

Dass der ertappte Minister sich anschließend anstrengte, auf der öffentlichen Bühne andere Rollen zu finden, wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Erstens verlor er durch die Teilnahme an der britischen Version der Selbstdarstellungs-Serie Dschungelcamp die Mitgliedschaft in der Parlamentsfraktion der konservativen Partei und zweitens resultierte sein Bemühen, durch die Vorlage einer Biographie („Pandemische Tagebücher) eine wohlwollende Erinnerung an sich zu stiften, im Gegenteil. Die Journalistin Isabel Oakeshott, die als Co-Autorin der pandemischen Tagebücher fungierte, befand kurzerhand, die vertraulichen Whatsapp-Nachrichten, die Hancock ihr zugänglich gemacht hatte, seien für sich genommen schon ein derart bedeutender Lesestoff, dass sie ungefiltert der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden sollten.

Die Summe dieser Whatsapp-Texte lässt nun die bitteren Monate der Covid-Beschränkungen wieder lebendig werden, einschließlich der internen Kämpfe in der konservativen Regierungspartei über Sinn und Dauer jener Isolierungsmaßnahmen. Die Pandemie-Politik vertiefte damals noch interne Gräben, die Brexit-Enthusiasten und europäische Kooperations-Befürworter ohnehin schon zwischen sich gezogen hatten. Nun stellt sich heraus, dass Hancock und seine Whatsapp-Getreuen erwogen, in mindestens einem Fall einen widerspenstigen Abgeordneten mit der Drohung unter Druck zu setzen, einer Behinderteneinrichtung in dessen Wahlkreis die finanziellen Zuschüsse zu streichen.

Es ging auch um Sunak

Dass diese innerparteilichen Kämpfe jetzt neue Aufmerksamkeit finden, wäre für sich genommen schon ein Ärgernis für den gegenwärtigen Premierminister Rishi Sunak, der in den wenigen Wochen, die ihm bis zu den nächsten Kommunalwahlen, und den rund eineinhalb Jahren, die ihm bis zur nächsten Unterhauswahl bleiben, den Blick der Briten nach vorn lenken möchte.

Doch Details der zwei Jahre alten Textnachrichten betreffen auch Sunaks eigene Regierungsmannschaft. Das gilt vor allem für den obersten Beamten des Vereinigten Königreiches, den Leiter des „Cabinet Office“, der Regierungszentrale also. Simon Case, der einst im Leichtgewichtsachter der Universität Cambridge ruderte, war eingebunden in die Whatsapp-Gruppen, in denen Details aktueller Covid-Maßnahmen erörtert wurden, kommunizierte selbst auch gelegentlich in jenem flapsigen Ton, der dort herrschte. So stellte er bei einer Gelegenheit fest, der damalige Finanzminister (und Cases aktueller Chef) Rishi Sunak werde „ausflippen“, wenn es zu weiteren Beschränkungen komme, die der Wirtschaft schadeten; bei anderer Gelegenheit charakterisierte er seinen damaligen Chef und Premierminister Boris Johnson als eine „Gestalt, der man landesweit misstraut“.

Personalproblem für den Premier

Daraus resultiert nun ein aktuelles Personalproblem für Sunak, es mehren sich Ratschläge, er möge Case aus dem Amt entlassen, und Spekulationen, dass der „Cabinet Secretary“ vielleicht von selbst den Entschluss fasst, zu gehen. Überdies hat der Schatten Boris Johnsons, der über Sunaks Amtsführung hängt, durch die Angelegenheit wieder an dunkler Farbigkeit gewonnen. In den Textnachrichten berichtet Case an Hancock, er gelte als eine Spaßbremse, weil er gegenüber Johnson stets die Covid-Gefahren hervorhebe, während dieser so gern von den fantastischen wirtschaftlichen Zeiten schwärme, die dem Vereinigten Königreich nach dem vollzogenen Brexit bevorstünden.

Der phantasievolle Vorvorgänger begleitet und beschwert auch ohne die Whatsapp-Indiskretionen den Sunaks Regierungsalltag. Jüngst wurde bekannt, das Johnson in der üblichen Verteilung von Orden und Ehren anlässlich seines Rücktritts, die ohnehin außergewöhnlich üppig ausfiel, auch den eigenen Vater Stanley Johnson mit einer Adelswürde bedenken möchte. Die Zuerkennung würde Lord Johnson Senior ins britische Oberhaus befördern – falls die gegenwärtige Regierung trotz des entgeisterten Kopfschüttelns nicht nur der oppositionellen Labour-Partei zu diesem Vorschlag nickt. Der oberste Beamte Simon Case, durch dessen Hände die Ehrenliste geht, müsste auf Einwände verzichten, der aktuelle Premierminister müsste sie passieren lassen.

Source: faz.net

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