News des Tages: Amoklauf in Hamburg, Russischer Maulwurf beim BND, Xi Jinping

1. Wut und Trauer

Die schlimme Nachricht vom Amoklauf in Hamburg hat viele Menschen heute erschüttert, und offenbar hätte es sogar noch schlimmer kommen können: »Einsatzkräfte haben vielen Menschen das Leben gerettet«, sagte Matthias Tresp, Leiter der Schutzpolizei Hamburg, heute auf einer Pressekonferenz nach dem Amoklauf in einem Gebäude der christlichen Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas.

Ungefähr 20 Personen seien unverletzt gerettet worden. Es gebe aber acht Tote, darunter der Täter selbst, und acht Verletzte, vier davon schwer. Bei den Todesopfern habe es sich um zwei Frauen und vier Männer im Alter von 33 bis 66 Jahren sowie ein ungeborenes Baby »im Alter von 28 Wochen« gehandelt, sagte Thomas Radszuweit, der Leiter des Staatsschutzes. Die Mutter des Kindes hat den Ermittlern zufolge überlebt. Vor den Schüssen in dem Versammlungsraum soll der Angreifer vor dem Gebäude mehrfach auf ein Fahrzeug geschossen haben. Die Fahrerin konnte glücklicherweise flüchten.

Hamburgs Innensenator Andy Grote sprach von »der schlimmsten Straftat in der jüngsten Geschichte unserer Stadt«. Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund der Tat gibt es offenbar nicht. Beim Todesschützen handelt es sich laut Polizei um einen 35-Jährigen, der Finance & Controlling studierte – und nach SPIEGEL-Informationen eine merkwürdige Homepage betrieb.

Polizeipräsident Ralf Martin Meyer zufolge gab es einen anonymen Hinweis darauf, dass der Täter eine besondere Wut gegen religiöse Anhänger, besonders gegen die Zeugen Jehovas und auf seinen ehemaligen Arbeitgeber, gehegt hatte.

2. Moskaus Maulwurf

Ein mutmaßlicher russischer Maulwurf beim Bundesnachrichtendienst (BND) stürzte die Behörde im Dezember in die wohl größte Krise seit Jahrzehnten. Ausgerechnet in Kriegszeiten verscherbelte ein Referatsleiter offenbar sensible Informationen an Moskau. Gerade jetzt kommt es auf den sicheren Austausch geheimer Informationen an. Und ausgerechnet da landet heikles Material aus dem BND in Moskau? Es ist für den Dienst ein Worst-Case-Szenario – und eine peinliche Panne.

Über Monate hinweg recherchierte ein SPIEGEL-Team um Roman Lehberger und Fidelius Schmid die Hintergründe des spektakulären Spionagekrimis. »Der Fall offenbart gravierende Missstände im BND«, sagt Lehberger.

Die SPIEGEL Titelstory  ist die Rekonstruktion eines GAUs, der das Ansehen des deutschen Dienstes bei seinen Partnerdiensten etwa in den USA oder Großbritannien nachhaltig schädigen könnte. Der mutmaßliche Spion im Geheimdienst »war wohl kein sorgsam aufgebauter Doppelagent. Vielmehr spielten offenbar skurrile Zufälle eine Rolle – trotzdem versagten sämtliche Sicherheitsvorkehrungen«, so Schmid.

Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Russisches Gericht verurteilt ukrainische Kriegsgefangene zu langen Freiheitsstrafen: In den russisch besetzten Gebieten sind drei Ukrainer zu langer Haft verurteilt worden. Den Männern wird Mordversuch vorgeworfen – einer von ihnen ist ein bekannter Pazifist und Menschenrechtsaktivist.

  • Stützt ein Schaeffler-Deal Putins Krieg? Der Unternehmer Siegfried Wolf will das Russlandgeschäft von Schaeffler übernehmen. Eine Behörde untersucht, ob er als Strohmann für den Oligarchen Oleg Deripaska agiert. Wolf könnte so den russischen Truppen helfen .

  • Russischer Jumbojet steht schon ein Jahr am Flughafen Hahn: Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland haben dem kleinen Flughafen Hahn im Hunsrück einen Dauermieter beschert: eine Frachtmaschine von Boeing. Die unbekannten Eigentümer zahlen 1200 Euro – pro Tag.

  • Unter einem Dach mit Gazprom: Der Christdemokrat Friedbert Pflüger wurde von Nord Stream 2 bezahlt und flankierte den Pipelinebau mit Studien. Nun holt ihn seine Nähe zum russischen Gaskonzern ein .

3. Doppelte Teetasse für den Alleinherrscher

Xi Jinping ist für weitere fünf Jahre als Chinas Präsident »gewählt« worden. Der Volkskongress bestätigte den Alleinherrscher für eine ungewöhnliche dritte Amtszeit. Schon auf dem Parteitag im Oktober hatte sich der 69-Jährige über bisher respektierte Alters- und Amtszeitbegrenzungen hinweggesetzt und sich eine andauernde Führungsrolle in der Parteiverfassung verankern lassen.

So weit, so bekannt. Aber wussten Sie, warum Xi Jinping als Einziger auf dem Volkskongress aus zwei Teetassen trinkt? Hat er doppelt Durst? Nein, natürlich handelt es sich um eine Machtdemonstration.

Spannend fand ich außerdem die Lektüre über Wang Huning. Zu seinen inoffiziellen Titeln gehört »guoshi«, Lehrer des Staates. Westliche Medien nennen ihn – mit einigem Bombast – »Chinas Rasputin«, »Chinas Kissinger« oder »die graue Eminenz« der Kommunistischen Partei. Gleich drei chinesischen Präsidenten hat Wang Huning als Ideengeber gedient, schreibt SPIEGEL-Chinakorrespondent Georg Fahrion . Nun bekleidet er ein neues Amt – und könnte damit Pekings Umgang mit Taiwan entscheidend beeinflussen.

Neben dem Nationalen Volkskongress tagt in Peking derzeit die »Politische Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes«, so der umständliche Name des obersten Beratergremiums. Deren Delegierte haben Wang heute zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt. Als solchem untersteht ihm fortan die sogenannte Einheitsfront. Vereinfacht ausgedrückt, sind damit die Institutionen und Strategien gemeint, die Außenseiter auf die Seite der Partei ziehen sollen – seien es nationale Minderheiten, Auslandschinesen, Hongkonger, Taiwaner oder andere. Gängige Mittel sind Vorteilsgewährung, Unterwanderung oder Druck.

Wang gilt zudem als Ghostwriter der Werke Xis, die in China in jedem Buchladen stehen.

»Man stelle sich zum Vergleich vor, George Bush, Barack Obama und Donald Trump hätten allesamt auf denselben Politikberater vertraut, der ihnen zudem ihre Reden schrieb«, so Fahrion. Dass Wang es geschafft hat, sich bei drei aufeinanderfolgenden Staats- und Parteichefs unentbehrlich zu machen, ist »eine unerhörte Leistung«. Daran lasse sich sein Vermögen ablesen, Interessen auszugleichen und Beziehungen zu navigieren – und seine Anpassungsfähigkeit.

Klingt nach guten Voraussetzungen, um den Konflikt mit Taiwan nicht eskalieren zu lassen.



Was heute sonst noch wichtig ist

  • US-Bankaktien verlieren dramatisch an Wert: Zwei Nachrichten aus den USA schrecken die Kapitalmärkte auf: Die Aktien der Silicon Valley Bank rauschen um 60 Prozent in die Tiefe. Und die Kryptobank Silvergate stellt ihren Betrieb ein. Die Folgen an der Börse sind drastisch.

  • Israels Präsident stellt sich gegen umstrittene Justizreform: Zehntausende Menschen demonstrieren in Israel seit Wochen gegen die Entmachtung der Justiz. Ministerpräsident Netanyahu möchte das neue Gesetz dennoch durchsetzen. Nun hat sich Präsident Herzog zu Wort gemeldet.

  • Iran und Saudi-Arabien vereinbaren Wiederaufnahme bilateraler Beziehungen: Jahrelang war das Verhältnis zwischen Iran und Saudi-Arabien angespannt – doch nun nähern sie sich Berichten zufolge wieder an. Innerhalb von zwei Monaten sollen auch die Botschaften wieder geöffnet werden.

Meine Lieblingsgeschichte heute: Gähnende Lehre

Bevor ich keinen guten Titel für einen Text habe, kann ich nicht anfangen zu schreiben. Eine gute Überschrift ist die Visitenkarte eines guten Textes, finde ich. Oft schon habe ich Artikel nur deshalb gelesen, weil mich die Zeile darüber begeistert hat – umgekehrt habe ich vermutlich auch schon oft Hammertexte meiner Kolleginnen und Kollegen nicht gelesen, weil der Titel belanglos wirkte.

»Gähnende Lehre« lautet die Überschrift der Titelgeschichte des Kinder-Nachrichten-Magazins Dein SPIEGEL, die mich zum Weiterlesen sofort motiviert hat. Lehrermangel, schlechte Ausstattung, ein veraltetes Notensystem – von vielen deutschen Schulen ist zurzeit mehr Negatives als Positives zu berichten. Dabei könnte es fairer und zeitgemäßer laufen: In der Titelgeschichte geht es daher um Schulen, die gute Beispiele abgeben. Außerdem spricht Bundesminister Cem Özdemir mit Kinderreporterinnen über Ernährung.

Das Heft liegt seit gestern am Kiosk. Auch bei amazon.de  oder meine-zeitschrift.de  kann man es kaufen.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Im Wahn der Therapeuten: Anhänger geheimer Kulte misshandeln Kinder und kontrollieren Menschen via Hirnmanipulation: Unter dem Dach von Kirchen und Kliniken verbreiten Therapeuten derartige Horrormythen – und reden Patienten angeblichen Missbrauch ein .

  • Die Spur der »Andromeda«: Ein Sabotagekommando an Bord einer Segeljacht von Rügen soll die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee gesprengt haben. Vieles bleibt rätselhaft – eine Nachforschung an der Ostsee .

  • Toxischer Gefühlscocktail – aber mit Schirmchen drin: »Endless Summer Vacation« folgt auf den Nummer-one-Hit »Flowers« der US-Popsängerin. Kann Miley Cyrus’ achtes Studioalbum mit dem überbordenden Erfolg der Single mithalten?


Was heute weniger wichtig ist

Werbefigur und Unternehmer: Nach seiner Haftentlassung meldet sich Boris Becker zurück – als Werbefigur. An diesem Freitag präsentierte der 55-Jährige seinen neuesten Werbedeal mit einem Fensterversandhändler. Im Werbespot wirft Becker selbstironisch Geld aus dem Fenster. Der dreifache Wimbledon-Sieger hatte während seiner Tenniskarriere etwa 25 Millionen Dollar an Preisgeld eingesammelt und nach eigenen Schätzungen etwa dieselbe Summe mit Werbung verdient. Ende April 2022 war er in London zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil er seinen Insolvenzverwaltern Vermögenswerte in Millionenhöhe verschwiegen hatte.

Mini-Hohlspiegel

Schild an einer Straße nahe Aigen am Inn (Bayern)

Und am Wochenende?

Selbst dann, wenn man mit seinem Leben eigentlich ganz zufrieden ist, muss man zugeben, dass man viele Chancen nicht ergriffen und viele Wege nicht genommen hat. »Wer rechts abbiegt, kann nicht gleichzeitig nach links gehen«, schreibt SPIEGEL-Filmkritiker Lars-Olav Beier . Dieses moderne Lebensgefühl, dass alles auch ganz anders hätte kommen können, haben die amerikanischen Regisseure Daniel Kwan und Daniel Scheinert genommen und daraus das Fantasy-Spektakel »Everything Everywhere All at Once« gemacht. Der Lohn: elf Oscar-Nominierungen.

Darsteller Stephanie Hsu, Michelle Yeoh und Ke Huy Quan in »Everything Everywhere All at Once«


Foto:

Capital Pictures / ddp images


Der Film erzählt von der aus China in die USA emigrierten Waschsalon-Betreiberin Evelyn Quan (Michelle Yeoh), die mit ihrem Leben gerade hadert. Die Steuer sitzt ihr im Nacken, ihre lesbische Tochter (Stephanie Hsu) macht Ärger, und auch um ihre Ehe steht es nicht zum Besten. Als Evelyn bei einer fiesen Frau von der Steuerbehörde (Jamie Lee Curtis) vorstellig werden muss, tut sich unversehens ein gigantisches Multiversum vor ihr auf. Evelyn wird von einem alternativen Leben ins nächste katapultiert.

In meinem Freundeskreis gibt es Menschen, die meinen, es handele sich bei »Everything Everywhere All at Once« um den besten Film der letzten Jahrzehnte. Es gibt aber auch welche, die mit einem simplen »Na ja« auf die Frage antworten, wie ihnen der Oscarfavorit gefallen habe. Ich werde mir am Wochenende einen eigenen Eindruck machen.

Einen schönen Abend.

Herzlich

Ihre Anna Clauß, Leiterin Meinung und Debatte

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