Die sowjetischen Kriegsgefangenen gehören zu den größten Opfergruppen des Nationalsozialismus. Die Wehrmacht nahm zwischen dem Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 5,7 Millionen Angehörige der Roten Armee gefangen. Ihre Behandlung war verbrecherisch.
Die Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft und industriellen Betrieben aller Art war hart, die Essensversorgung katastrophal, Krankheiten grassierten. Eine medizinische Betreuung war nicht vorhanden. 3,3 Millionen Sowjetsoldaten wurden in deutscher Gefangenschaft getötet. Die Wehrmacht ließ die jungen Männer bewusst verhungern, an Seuchen und Kälte sterben oder öffentlich hinrichten.
Die strafrechtliche Aufarbeitung der systematischen Massentötungen in Kriegsgefangenenlagern und Arbeitskommandos war kaum vorhanden. Lange hielt sich die von Historikern widerlegte Legende der „sauberen Wehrmacht“.
Die Deutschen mordeten ohne Ahndung. Auch mindestens in den vergangenen 20 Jahren wurde kein einziger Wachmann eines „Stalags“, eines Stammlagers für die Kriegsgefangenen der Wehrmacht, für die Beihilfe zum Massenmord verurteilt.
Erst Anfang 2021 begann ein neues Kapitel der juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen für die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, die seit 1958 die Ermittlungen in NS-Fällen koordiniert, leitete damals mehrere Vorermittlungsverfahren gegen ehemalige Wehrmachtssoldaten ein, die Kriegsgefangenenlager bewacht hatten.
Anfang 2022 hatte die Zentrale Stelle vier der Verfahren nach dem Abschluss der Vorermittlungen an Staatsanwaltschaften der Länder abgegeben. Mittlerweile wurden allerdings alle dieser Verfahren eingestellt. Dies zeigt eine Recherche der WELT bei den Staatsanwaltschaften Berlin und Dortmund sowie der Generalstaatsanwaltschaft Celle.
Diese Verfahren wurden eingestellt
In einem Fall war es bereits zu einer Anklage gekommen. Die Berliner Staatsanwaltschaft warf einem 99-Jährigen vor, zwischen November 1942 und März 1943 in mindestens 809 Fällen Beihilfe zum grausamen Mord an Inhaftierten des Kriegsgefangenenlagers „Stalag 365“ in Wladimir-Wolynsk (Ukraine) geleistet zu haben.
Die Jugendkammer des Landgerichts, die aufgrund des Alters von 19 Jahren zum Tatzeitpunkt zuständig ist, beschloss allerdings im November 2022, die Anklage nicht zur Hauptverhandlung zuzulassen, da der Angeschuldigte dauerhaft verhandlungsunfähig sei. Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig, da die Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt hat.
Oberstaatsanwalt Sebastian Büchner sagte WELT: „Aus Sicht der Staatsanwaltschaft ist das Gutachten, auf das sich diese Entscheidung stützt, zum einen inhaltlich nicht vollumfänglich überzeugend. Zum anderen ergäbe sich nach hiesiger Lesart nur eine eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit, nicht aber eine vollständige Verhandlungsunfähigkeit.“ Obwohl das Verfahren bereits seit mehreren Monaten dem Kammergericht vorliegt, ist noch keine Entscheidung ergangen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Celle stellte im August 2022 ein Ermittlungsverfahren gegen einen damals 101-Jährigen ein, ebenfalls aufgrund einer Einstufung des Angeschuldigten als dauerhaft verhandlungsunfähig. Ermittelt worden war ein Tatzeitraum von September 1943 bis September 1944 im Kriegsgefangenenlager „Stalag I b“ in Hohenstein (Ostpreußen, heute Polen). Der Beschuldigte war während seiner Tätigkeit als Wachmann zwischen 21 und 22 Jahre alt.
Bereits im April 2022 stellte die Staatsanwaltschaft Dortmund ein Ermittlungsverfahren gegen einen damals 98-Jährigen ein, der von August 1941 bis ungefähr Oktober 1943 im Alter zwischen 18 und 20 Jahren im Kriegsgefangenenlager „Stalag 358“ in Schytomyr (Ukraine) tätig war.
„Die einzig nachweisbare Tätigkeit des Beschuldigten als Dolmetscher in einer Kolchose, die für die Lebensmittelversorgung des Kriegsgefangenenlagers zuständig war, stellte sich nach hiesiger Ansicht nicht als Beihilfe zum Mord dar, da es unter anderem an einem nach der Rechtsprechung erforderlichen mordfördernden Sinnbezug der Handlungen – zumindest mit den feststellbaren Tatsachen – fehlt“, sagte Oberstaatsanwalt Andreas Brendel WELT.
Ein weiteres Ermittlungsverfahren hatte die Generalstaatsanwaltschaft Celle bereits im Januar 2022 eingestellt. Der Beschuldigte, der zwischen Oktober 1943 bis zur Befreiung des Lagers im „Stalag VI C“ in Bathorn (Niedersachsen) als Wachmann tätig war, starb damals im Alter von 96 Jahren. Die Generalstaatsanwaltschaft ermittelte seit Mitte 2021 gegen den Mann. Die Vorermittlungen der Zentralen Stelle in Ludwigsburg liefen zuvor mehr als zwei Jahre.
„Die Justiz hat über Jahrzehnte die Augen verschlossen“
Gestützt hatten sich die Ludwigsburger Staatsanwälte auf die Rechtsprechung seit dem Urteil gegen Sobibor-Wachmann John Demjanjuk im Jahr 2011, nach der Wachleute von Konzentrationslagern auch ohne konkreten Tatnachweis verurteilt werden können.
Wenn sich über einen gewissen Zeitraum systematische Tötungen in Konzentrationslagern ereignet haben, ist eine Wachtätigkeit als Beihilfe zum Mord strafbar, wenn das für die Wachleute erkennbare Geschehen durch ihre Tätigkeit gefördert wurde. Verbrechen nach dem Mord-Paragrafen sind in Deutschland die einzigen, die nicht verjähren.
Die Zentrale Stelle hält die Rechtsprechung für übertragbar. „Auch in Kriegsgefangenenlagern gab es vielfach systematische Massentötungen durch die Schaffung und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen“, sagte Behördenleiter Thomas Will WELT.
Dort seien als Wachleute im Schnitt ältere, nicht mehr fronttaugliche Jahrgänge eingesetzt worden. „Nur noch die damals jüngeren können wir noch strafrechtlich verfolgen und auch ganz allgemein noch fünf bis sechs Jahrgänge, die wir einigermaßen Erfolg versprechend verfolgen können.“
Bei der Zentralen Stelle wird momentan nur noch ein Vorermittlungsverfahren zu einem Kriegsgefangenenlager geführt, dem „Stalag III C“ in Alt-Drewitz (Polen). Tausende Soldaten aus der Sowjetunion, Frankreich, Polen, Großbritannien, Jugoslawien und weiteren Nationen wurden dort gefangen gehalten und ermordet. „Die Beweislage ist aber so schwach, dass ich keine Anklage erwarte“, sagte Will.
Die Rechtsanwälte Thomas Walther und Hans-Jürgen Förster vertreten in Prozessen gegen KZ-Wachleute immer wieder Überlebende der NS-Verbrechen. „Wir sind sehr spät dran, ein Stück weit zu spät. Die Justiz hat über Jahrzehnte die Augen verschlossen“, sagte Walther. „Die Schaffung und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen erfüllt das Mordmerkmal der Grausamkeit. Wenn dies in Kriegsgefangenenlagern beweiskräftig festgestellt werden kann, ist es die Pflicht, gegen noch lebende Täter zu ermitteln.“
Förster, ehemaliger Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, sagte WELT: „Die befremdliche Säumnis betrifft schon die Zentrale Stelle selbst, die ihre Vorermittlungen viel eher auf Wachleute in Kriegsgefangenenlagern hätte erstrecken sollen. So neu ist die seit dem Fall Demjanjuk praktizierte Rechtsprechung bei Beihilfe zum staatlich angeordneten Mord wahrlich nicht.“
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Source: welt.de