Was für die Bundesrepublik der „Deutsche Herbst“ war, die ins kollektive Gedächtnis eingebrannte Kulmination des RAF-Terrors in der Schleyer-Entführung und der Geiselnahme der „Landshut“, war für Italien die Zuspitzung der Angriffe der Roten Brigaden auf das Herz des Staates: Am 16. März 1978 entführte die kommunistische Terrororganisation Aldo Moro, den früheren Ministerpräsidenten und nun Parteivorsitzenden der mit Regierungsmacht im Nachkriegsitalien synonym gewordenen konservativen Democrazia Cristiana. Seine fünf Leibwächter starben im Kugelhagel. 55 quälende Tage später war auch Moro tot: Der Leichnam des Erschossenen wurde im Kofferraum eines Kleinwagens gefunden, mitten in Rom.
Italien hat damit bis heute nicht abgeschlossen
Bis heute hat Italien nicht abgeschlossen mit den „anni di piombo“, den in den späten Sechzigern beginnenden und in den frühen Achtzigern – nach dem Bombenanschlag von Bologna – langsam endenden bleiernen Jahren, in denen politische Terroristen von links und rechts das Land mit Gewalt überzogen.
Wie lang die Schatten sind, zeigte sich erst vor gut einem Jahr wieder, als Rom und Paris über die ausbleibende Auslieferung italienischer Linksterroristen aneinander gerieten, die sich seit Jahrzehnten in Frankreich der Strafverfolgung entziehen. Andere, aus italienischer Haft entlassene Täter, treffen sich dagegen zu Gesprächen mit Familienangehörigen von Opfern. Immer neue Bücher erscheinen über den Fall Moro, zu dem nach wie vor nicht alle Akten einsehbar sind. Die Diskussion um Schuld und Sühne, um Macht, Ohnmacht und Rolle des Staates hält an – und nun schärft noch der Krieg in der Ukraine den Blick auf die schon ferngerückte Ära des Kalten Krieges.
Marco Bellocchio ließ die Zeit des Terrors nie los
Den italienischen Regisseur und Drehbuchautor Marco Bellocchio, Jahrgang 1939 und kein bisschen schaffensmüde, hat die Zeit des Terrors nie losgelassen. 1995 drehte er eine Dokumentation über Moros Entführung, 2003 einen Spielfilm zum Thema, nun folgt eine sechsteilige Fernsehserie. Anders als der Film erzählt „Esterno notte“, deutsch „Und draußen die Nacht“, nicht aus der Perspektive der Entführer von den Geschehnissen im Frühling 1978, sondern kreist diese von verschiedenen Seiten ein: aus der Perspektive Aldo Moros; der seines Parteifreundes, des Innenministers Francesco Cossiga; von Papst Paul VI, der Moro persönlich verbunden war; der Terroristin Adriana Faranda; von Moros Ehefrau Eleonora und schließlich wieder Moros selbst.
Nach dem barock lebenssatten Mehrteiler „Il traditore – Als Kronzeuge gegen die Mafia“, in dem Bellocchio das Leben des Paten Tommaso Buscetta dramatisierte, kehrt er mit einem leisen, psychologisch präzisen und dadurch von Folge zu Folge packenderem Kammerspiel zurück. Es ist ein episches Nachtstück von rund dreihundert Minuten.
Nacht herrscht auch im Inneren der Figuren
Nacht herrscht nicht nur draußen, wie der Titel andeutet, sondern auch im Inneren der Figuren. In spärlich beleuchteten Räumen leiden sie zu später Stunde an ihren Entscheidungen oder als erdrückend eng empfundenen Handlungsspielräumen – ohne Schlaf zu finden. Insomnie ist nur eine der Krankheiten der mittelalten bis alten Männer an der Spitze von Republik und Kirche, denen die Kamera von Francesco Di Giacomo oft regelrecht im Nacken sitzt.
Aldo Moro, bis in mimische Manierismen als feinnerviger, tieffrommer Gelehrter perfekt verkörpert von Fabrizio Gifuni, trägt stets eine Tasche mit Medikamenten bei sich; der Innenminister (Fausto Russo Alesi) sieht Flecken, wo keine sind; der Papst (Toni Servillo) hängt am Tropf, wenn er sich nicht im Rollstuhl zum Gebet quält. Selbst die Sphinx Giulio Andreotti, Ministerpräsident und durchtriebenster Polit-Pokerer von allen, zeigt Nerven. Ihm dreht sich der Magen um.
Das Politische frisst das Private
Die Protagonisten dieser Tragödie, alle Patienten, krankend physisch und an Beziehungsmiseren, weil das Politische das Private frisst: Diesen Eindruck verstärkt Bellocchio noch, wenn ein Heer weiß bekittelter Rasterfahnder an Abhörgeräten sitzt und sich das Gerede der Irren Italiens anhört, ohne jeden Ermittlungserfolg. Verrückt, darauf lautet denn auch die von der Politik an die Presse ausgegebene Ferndiagnose den aus der Gefangenschaft Briefe schreibenden Aldo Moro betreffend: Die teils öffentlich gemachte Schreiben, in denen Moro geheime Verhandlungen mit den Terroristen vorschlägt, sollen als Worte eines wohl unter Drogen Gesetzten gelten.
Dass es Bellocchio nicht um eine Dokufiktion von historischer Akkuratesse geht – was ihm scharfe Kritik von Aldo Moros Tochter Maria Fida einbrachte – macht er gleich zu Beginn klar. Da stehen Andreotti, Cossiga und der Generalsekretär Benigno Zaccagnini am Bett eines von den Entführern freigelassenen Moro und hören ihn seinen Dank an die Brigate Rosse und die Abkehr von der Democrazia Cristiana formulieren. Hätte es so kommen können?
Trailer : „Und draußen die Nacht“
Video: Arte, Bild: dpa
Der Alptraum der Partei-„Freunde“ weist die Richtung: Alles fing damit an, dass Moro die von den Christdemokraten geführte Minderheitsregierung durch Kommunisten und Sozialisten im Parlament stützen lassen wollte. Die radikalisierte Linke will das als Verrat an der Revolution verhindern. Unbehagen empfinden aber auch der Papst, die Christdemokraten, alte Faschisten und Mafiosi angesichts einer möglichen Kooperation mit kommunistischen Atheisten. Amerika fürchtet einen Drift gen Moskau.
Nach stümperhafter Fahndung, einer aus undurchsichtigen Gründen gescheiterten Vermittlung des Heiligen Stuhls mit Lösegeld, dem Zerbröseln der Idee des Gefangenenaustauschs, sickert überall – nur nicht bei der Familie – die kalte Einsicht durch, dass Moro nicht zu retten ist. Bellocchio stellt diese Härte nicht als Stärke des Staates dar, sondern als Melange aus Schwäche, Inkompetenz und politischem Kalkül. Einmal sind sich die Terroristen, blind dafür, dass sie den Bogen überspannten, mit den Regierenden einig, scheint es. Sie machen Moro zum Märtyrer, als den ihn Paul VI. vor Augen hatte. In Italien fand die von der Rai und Arte koproduzierten Serie ein Millionenpublikum. Auf solch breites Interesse wird sie in Deutschland kaum stoßen. Unbedingt sehenswert bleibt sie.
„Und draußen die Nacht“ startet am 15. März um 21.55 Uhr auf Arte und ist in der Mediathek des Senders abrufbar.
Source: faz.net