Kultur, das sind ewige Werte. So hätte man früher gesagt. Heute spricht man als Kulturpolitiker oder Kulturfunktionär lieber von Daueraufgaben und Nachhaltigkeit. Jedenfalls ist der Begriff der Kulturbürokratie kein Oxymoron. Die Ratio der Bürokratie ist die Langfristigkeit; sie ist die Organisation, die sich durch geregelte Verfahren gegenüber den Aufregungen des Tages abschottet, um bestandsfähige Anordnungen zu treffen. Bei Beamten oder auch Geschäftsführern von Berufsverbänden, die ihr Arbeitsleben in den Dienst einer Kultursparte stellen, müsste die Kultur eigentlich in guten Händen sein.
Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien hat im Jahr 2021 eine Untersuchung „zur NS-Aufarbeitung in der deutschen Kulturszene“ in Auftrag gegeben. Das Wort „Kulturszene“ ist missverständlich; es geht um die institutionelle Seite des Kulturbetriebs, genauer um dessen staatlich unterhaltenen oder alimentierten Teil. Einrichtungen, die Geld von der Beauftragten erhalten, bekamen Post von den Leitern der Studie, Jutta Braun vom Zentrum für zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam und Michael Wildt von der Berliner Humboldt-Universität, mit der Bitte um Auskunft darüber, wie weit die jeweilige Institution ihre nationalsozialistische Geschichte oder Vorgeschichte aufgearbeitet hat und was noch getan werden könnte. Jutta Braun wird ihren Bericht über Stand und Perspektiven der Forschung bis Ende des Jahres schriftlich niederlegen und der Auftraggeberin überreichen. Auf einer eintägigen Konferenz in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wurde jetzt eine Zwischenbilanz gezogen.
Kultur ist trotz 1933 Bundessache
Der Fragebogen wurde an nahezu hundert Einrichtungen verschickt. Schon in dieser Zahl verbirgt sich ein Ertrag der Forschungen. Aus der zentralistischen Verwaltung und propagandistischen Verwertung der Kultur unter Hitler zog die Bundesrepublik die Lehre, dass die Kultur Ländersache sein solle; in der Staatspraxis hat sich diese Lektion erledigt. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass Subventionsempfänger und manche Kulturjournalisten die Abkürzung BKM mit sächlichem Artikel gebrauchen, obwohl sie für die Beauftragte steht; inoffiziell chiffriert gibt es das Bundeskulturministerium schon.
„Aufarbeitung“ ist ein unbestimmter Begriff, der einen moralischen Wunsch zum Ausdruck bringt. Wie kann die von der BKM zu diesem Stichwort bestellte Forschung die Maßstäbe für ihre Urteile bilden? Es gibt ein fundamentales Problem: Die Kontinuität, die in der Bürokratie die Betriebsvoraussetzung und im Kulturbereich zugleich das Betriebsziel ist, wird mit Blick auf die Zäsur von 1945 politisch negativ bewertet. Man braucht Ideen, um mit diesem Paradox zu arbeiten.
Die auf der Tagung in überwiegend prägnanten Kurzvorträgen vorgestellten Fallstudien waren in mehrfacher Hinsicht disparat, boten zu den großen Sparten Bildende Kunst, Musik und Film teilweise Aktenfunde, teilweise Überlegungen zur heutigen Erinnerungskultur. Hier und da aber schnurrte die in großem Bogen ausgemessene Zeit zusammen, und dank dem Reichtum des Materials begegnete man an entfernten Ecken des Programms denselben Gegenständen. Dann konnte sich der Gedanke aufdrängen, dass man die semantische Ebene nicht überschätzen darf. Der Verschleiß an Programmvokabeln ist in der Kulturpolitik besonders hoch und bedeutet nicht, dass sich automatisch auch das Verhältnis zu den Dingen ändert. Kultur ist Wiedervorlage – von Fragen im philosophischen Seminar, von Werken auf der Opernbühne, von lästigen Problemen auf den Schreibtischen von Ministerialbeamten.
Entmündigung des Publikums
Kulturstaatsministerin Claudia Roth war wegen des deutschen Kandidaten „Im Westen nichts Neues“ zur Oscar-Verleihung gereist und musste der Konferenz ihr Grußwort per Video aus Los Angeles übermitteln. Frank Bösch, Direktor des ZZF, erwähnte in der Schlussdiskussion, dass die amerikanische Verfilmung von Erich Maria Remarques Roman erst 1969 erstmals im deutschen Fernsehen gesendet worden sei. Er brachte das mit Bemühungen von Beamten der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums in Verbindung, den Rundfunkanstalten zeithistorisch heikle Stoffe auszureden. Lewis Milestones Verfilmung von 1930 zog eine Kampagne der Nationalsozialisten auf sich, wurde im Deutschen Reich zunächst verboten und kam 1931 erst nach einer Gesetzesänderung ins Kino. Die Bonner Filmpolitik stellte sich in Böschs Andeutungen als Fortsetzung solcher Entmündigung des Publikums und bürokratische Wiedereinführung der vom Grundgesetz abgeschafften Zensur dar.
Wenn Claudia Roth heute den Welterfolg der deutschen Neuverfilmung bejubelt, könnte der Bruch scheinbar nicht größer sein. Aber für die Kulturabteilung im Bonner BMI dürfte wie heute für die beziehungsweise das BKM die Orientierung am deutschen Ansehen leitend gewesen sein; Kulturpflege dient dazu, das eigene Selbstbild mit Gemeinschaftswerten zu identifizieren. Heute hält, was auf dem Podium zur Filmwirtschaft kritisch erörtert wurde, die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung NS-Propagandafilme unter Verschluss, ohne bislang allerdings BKM-Fördergelder zu beziehen.
Zur positiven Seite der früheren behördlichen Sorge um den Publikumsgeschmack gehörte die Förderung des „Kulturfilms“, der seinen edlen Zweck im Gattungsnamen vor sich hertrug. Das Genre ist untergegangen, seit ihm der Platz als Vorfilm nicht mehr garantiert ist. Ein Pionier war Hans Cürlis, auf den Wolf-Rüdiger Knoll stieß, als er sich für das Institut für Zeitgeschichte mit Alfred Bauer beschäftigte, dem ersten Direktor der Berlinale; mit dem Forschungsauftrag an das IfZ reagierte die Berlinale auf die Skandalisierung der Funktionen Bauers im Apparat der NS-Filmpolitik. Knoll und sein Kollege Andreas Malycha sind zu dem Ergebnis gekommen, dass dem Netzwerk von Bauer, Cürlis und anderen Veteranen der Filmwirtschaft des NS-Staats keine Festivalprogrammpolitik ewiggestriger Propagandaziele zur Last gelegt werden könne.
Grenzen der Forschungsexpansion
Soll die Behördenforschung, die unter Federführung von IfZ und ZFF fast alle Ministerien durchgekämmt hat, auf die Kulturverwaltung ausgedehnt werden? Bösch äußerte sich dazu bemerkenswert skeptisch. Claudia Roth beschreibt „personelle Kontinuitäten nach 1945“ als „Forschungslücke“, aber man weiß inzwischen, dass die weiterbeschäftigten Spezialisten keine Geheimbünde gebildet haben. Soll man für Kulturbürokraten mit NS-Parteibuch in der Schublade annehmen, dass sie zäher am alten Gedankengut hingen als Finanzbeamte oder Diplomaten, weil es Kern ihrer professionellen Identität war, sich Gedanken zu machen? Oder werden sie sich gerade deshalb neue Gedanken angeeignet haben? Laut Bösch ist es Erkenntnisstand der Behördenforschung, dass das Handeln sich vor dem Denken veränderte.
Michael Wildt formulierte als seine Schlussfolgerung aus der Untersuchung die Hypothese, dass die Kultur die Möglichkeit geboten habe, sich zum Nationalsozialismus in Beziehung zu setzen, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen. An der unausgeprochenen Überzeugung, dass doch nicht alles falsch gewesen sein könne, hielt man fest, indem man die geistige Welt nach den Kategorien von Homogenität, Gemeinschaft und Einheit sortierte. Das Nachleben des Nationalsozialismus würde sich dann in schlechten Allgemeinplätzen offenbaren. Aber sind die Kategorien ihrerseits spezifisch genug für einen Test auf nationalsozialistische Kontamination?
Die Filmographie von Hans Cürlis verzeichnet für 1937 den vierzehn Minuten langen Museumskulturfilm „Der Welfenschatz“. Hermann Parzinger, der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), verbürgte sich in seinem Kommentar zu Vorträgen von Kerstin von Lingen und Lutz Klinkhammer über nationalsozialistischen Kunstraub unter dem Deckmantel des Kunstschutzes dafür, dass die „Haltung“ der SPK zum Thema Restitution „sich fundamental geändert“ hat. „Es ist wichtig, wie die Dinge in die Sammlung gelangt sind, und wir wollen keine gestohlenen, unrechtmäßigen Dinge in unseren Sammlungen.“ Nicht geändert hat sich die Einstufung des Welfenschatzes als ehrlich erworbenen, national wertvollen Kulturguts.
Exportverbot für Fürstenbesitz
In der wissenschaftlichen Diskussion über das auf Initiative von Monika Grütters, der Vorgängerin von Claudia Roth, novellierte Kulturgutschutzgesetz ist umstritten, ob der Begriff des „nationalen Kulturguts“ ohne eine inhaltliche, also nationalistische Vorstellung von nationaler Kultur gefüllt werden kann. Dass in Deutschland ein Verzeichnis national wertvoller Kunstprodukte geführt wird, befriedigt nun allerdings nicht etwa ein bei einer Kulturnation als angeboren zu unterstellendes Bedürfnis nach Systematisierung des Kanons. Die Liste ist ein Notbehelf, zu dem die Reichsregierung der jungen Weimarer Republik griff, um insbesondere die abgesetzten Fürsten am Export ihres privatisierten Kunsteigentums zu hindern. Einen Beleg dafür, dass der Rechtsbegriff der Reichsverordnungen von 1919 und 1920 selbst zum gesunkenen Kulturgut wurde, nämlich Künstlern zur Aufwertung ihrer eigenen Produktion zur Verfügung stand, enthielt der Vortrag von Elisa Tamaschke vom Georg Kolbe Museum im Berliner Westend über die Gründungsgeschichte ihres Hauses.
Der Bildhauer Georg Kolbe war am 20. November 1947 gestorben und hatte testamentarisch Vorsorge für die Pflege seines Nachlasses durch eine Stiftung getroffen, die am 16. März 1949 errichtet wurde. Laut Stiftungsurkunde ist der Stiftungszweck die „Sammlung, Erhaltung, Förderung und Verbreitung des künstlerischen Vermächtnisses des verstorbenen Meisters als Nationalgut des deutschen Volkes“. Als das Museum in Kolbes Atelierhaus am 18. Juni 1950 eingeweiht wurde, hielten die Festreden Walter May, der sozialdemokratische Stadtrat für Volksbildung im Magistrat von Ernst Reuter, und Edwin Redslob, der wortgewaltige Kulturpolitiker der Weimarer Republik mit dem Amtstitel des Reichskunstwarts, der am 1. März 1933 in den Ruhestand versetzt worden war.
Die erste Direktorin des Museums war die Fotografin Margit Schwartzkopff, Kolbes Testamentsvollstreckerin, die zweite Maria von Tiesenhausen, die Enkelin des Künstlers. Sie führte einen großen Teil des schriftlichen Nachlasses nach Kanada aus. Nach ihrem Tod 2019 kam dieses Material in 108 Umzugskisten zurück nach Berlin. Es wird jetzt ausgewertet und zeigt, dass Kolbes Verhältnis zum Nationalsozialismus viel weniger eindeutig war, als die Rednerkonstellation des Eröffnungstags suggerierte. Hitler ging auf Kolbes Angebot, ihn zu porträtieren, nicht ein. Einer der 87 Filme aus dem Zyklus „Schaffende Hände“, den Cürlis 1923 begann, zeigt Kolbe beim Modellieren einer Kleinplastik.
Realismus in Erwartung der Niederlage
Als Cürlis, wie Knoll berichtete, 1942 einen „Führerauftrag“ erhielt, „nämlich die fotografische Dokumentation von kulturellen Schätzen“, insbesondere von „Wandgemälden und kirchlichen Bauten“, lag diesem Albumprojekt schon der pessimistische Gedanke zugrunde, dass einige dieser Kulturgüter sich vielleicht nur im Abbild würden erhalten lassen, „erfolgte“ der Auftrag doch „im Zuge der zunehmenden Bombardierung der deutschen Städte“. Bei den an der italienischen Front eingesetzten Kunsthistorikern und Archivaren machte Lutz Klinkhammer einen „Realismus“ aus, der mit der Wahrscheinlichkeit der deutschen Niederlage zunahm. Theodor Mayer, der Präsident der Monumenta Germaniae Historica, der wegen seiner politischen Belastung nach dem Krieg nicht an die Universität zurückkehren konnte, verhinderte den Abtransport von Archivbeständen unter dem Vorwand, er sei technisch nicht möglich, und lehnte sogar den Raub einzelner Archivalien ab. Ebenso agierte Peter Scheibert, später Professor für Osteuropäische Geschichte in Marburg.
Soweit allerdings die sogenannten Bergungsaktionen räuberischen Charakter hatten, wollte Klinkhammer, der stellvertretende Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, die mit der Auswahl der Beute betrauten hochqualifizierten Akademiker als Täter bezeichnet wissen. Er machte die Beobachtung, dass wir immer noch dazu neigen, den Begriff des Täters stillschweigend auf die Beteiligung an der Ermordung der Juden einzuschränken: Wir müssten wegkommen „von Barbarennarrativen“.
Indem man die Nationalsozialisten nach dem 8. Mai 1945 als Barbaren klassifizierte, konnte man kundtun, dass ein Mensch wie beispielsweise Georg Kolbe nicht dazugehört habe. Als im Zuge der Gründungsvorbereitungen des Kolbe-Museums in der amerikanischen Öffentlichkeit Stimmen laut wurden, die man im Umkreis seiner Nachlassverwaltung als „Kampagne gegen Georg Kolbe“ empfand, wurden in einem Typoskript Stichpunkte zu seiner Verteidigung zusammengestellt. Unter der Überschrift „Kolbe als Mensch“ steht dort: „Wie er rein menschlich auf den Ungeist und die Barbarei der mit Scham und Schmach erfüllten 12 Jahre reagierte, darum wissen nur die wenigen Nahestehenden des großen Einsamen, die seine Offenheit und hemmungslose Empörung allzu oft eindämmen mussten, damit sie ihm nicht zur Gefahr und er damit wirklich zu einem ,Opfer der Nazis‘ wurde.“
In diesem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Text wurde also zugegeben, dass Kolbe nicht wirklich ein Opfer der Nazis war. Gleichwohl stellte es Margit Schwartzkopff in einem Brief an Kolbes New Yorker Bewunderer Erich Cohn als staunenswert hin, dass der Meister mit dem Leben davongekommen war. Was wolle man überhaupt gegen Kolbe ins Feld führen? „Dass er nicht emigrierte und auf der anderen Seite von den Nazis nicht totgeschlagen wurde? Die einzige Konzession, die die Verbrecher des III. Reiches bei ihm machten, ist, dass sie ihn leben ließen und sonst eiskalt zur Seite schoben. Vor der Größe eines solchen Geistes machten sogar die Barbaren Halt.“
Die Zwiespältigkeit der reinen Kunst
Die rhetorische Fiktion der Lebensgefahr des wahren Künstlers ist Ausdruck eines maßlos übersteigerten idealistischen Kunstbegriffs, der 1945 der Distanzierung von der Diktatur diente, obwohl diese die Topoi von der reinen und erhabenen Kunst ebenfalls in ihrer Kulturpropaganda gebraucht hatte – wie Christian Fuhrmeister und Friedrich Geiger in ihren Referaten demonstrierten. Fuhrmeister forscht am Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Geiger ist Professor an der Münchner Musikhochschule; beide arbeiten damit zufällig in den Münchner „Führerbauten“ des Areals um die zerstörte Parteizentrale, die zu Kulturgebäuden umgewidmet wurden. Die Kunst galt noch lange nach 1945 als „exempt“: So erklärte Fuhrmeister, dass die Verstrickung von Künstlern nur in wenigen Einzelfällen zur Debatte gestellt wurde. Im Kreis der Künste galt die Musik wiederum als die überweltliche Sphäre schlechthin. Das Berufsschicksal Wilhelm Furtwänglers, über den zunächst ein Betätigungsverbot verhängt wurde, war nach Geiger gerade nicht typisch.
Die vermeintlich höchste, da unanschaulichste und geistigste der Künste hatte bei den Gebildeten schon spätestens seit der Mitte des neunzehnten auch als die deutscheste gegolten. Das hatten die Nationalsozialisten nur zitieren müssen, das war aber auch die Überzeugung, die sachkundige alliierte Kulturoffiziere ins eroberte Reich mitbrachten. Es gab bei der Entnazifizierung, wie Geiger sarkastisch formulierte, einen „Geniebonus für Musikschaffende“, und ästhetische Antipoden wie Arnold Schönberg und Hans Pfitzner wirkten zusammen in „Solidarität gegen das System Politik“.
Die Trennung von E- und U-Musik, wie sie sich in der von Martin Rempe erläuterten Selbstverwaltung der deutschen Musiker in Gestalt der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) manifestiert, kann man als Relikt eines durch den Schock von 1945 verstärkten Distinktionsbedüfnisses sehen. Hermann Voss, Gründer und jahrzehntelang Geschäftsführer der DOV, war 1933 der NSDAP beigetreten und hatte in der Rechtsabteilung der Reichsmusikkammer gearbeitet. Rempes 2019 als Buch publizierte Forschungsergebnisse trafen die Nachfolger von Voss in der Geschäftsführung der DOV unvorbereitet.
Beschäftigungsgarantie für die Gottbegnadeten
Vier Tage nach der Eröffnung des Georg Kolbe Museums besuchten Ernst Reuter und Wilhelm Furtwängler gemeinsam die Eröffnungsausstellung. Erst zwei Jahre später kehrte Furtwängler offiziell ins Amt des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker zurück. Furtwängler und Kolbe hatten beide auf der „Liste der Gottbegnadeten“ gestanden, auf die Propagandaminister Joseph Goebbels die Künstler gesetzt hatte, die von der Einziehung zum Kriegsdienst ausgenommen bleiben sollten. Die Ausstellung des Deutschen Historischen Museums zu den Bildenden Künstlern unter den „Gottbegnadeten“ hat 2021 einen neuen Standard für die Forschung zur Kulturszene vor und nach 1945 gesetzt, wegen der Dichte der quellenmäßigen Dokumentation und vor allem wegen der Aufmerksamkeit für die alltäglichen Routinen des dem Außeralltäglichen geweihten Kunstbetriebs. Der anhaltende Dekorationsbedarf des öffentlichen Raums, der durch den Systemwechsel von 1945 nicht etwa verschwand, sondern eher noch gesteigert wurde, bedeutete fast eine Beschäftigungsgarantie für die semi-prominenten und nicht zu prominenten Künstler der abrupt beendeten Epoche.
Wolfgang Brauneis, der Kurator der Berliner Ausstellung, wurde unlängst zum Direktor des Nürnberger Kunstvereins ernannt, der sich seit 1830 mit dem Namen Albrecht Dürers schmückt. Kunstvereine sind Institute des kulturbürgerlichen Engagements, und Brauneis zeigte, wie die in heutigen Begriffen zivilgesellschaftliche Selbstrekrutierung von Künstlern und Künstlerfreunden just im Zweiten Weltkrieg besonders gut funktionierte, wie die glücklicherweise erhaltenen Matrikelbücher belegen.
Fuhrmeister hatte in seinem Forschungs- und Diskussionsüberblick beklagt, dass „das Betriebssystem Kunst in seiner Ganzheit bisher nicht adressiert“ worden sei, und mit Blick auf eine skandalgetriebene öffentliche Debatte „komplexere Narrative“ eingefordert. Für leitende Hinsichten solcher Erzählungen bot der Vortrag von Brauneis ein anregendes Stichwortpaar mit dem Gegensatz von Aktivität und Passivität. Nach 1945 war passivisch vom Leiden der Kunst die Rede, vorher hatte sie nicht aktivistisch genug sein können. Wichtig war der von Brauneis mit Nürnberger Vereinsmitgliedern belegte, höchstwahrscheinlich verallgemeinerungsfähige Hinweis, dass sich um Staatsaufträge in der Umbruchzeit nach 1933 auch Künstler bewarben, die finanziell darauf nicht angewiesen waren.
Überbetonung und Gefährdung der Autonomie
Was folgt aus den schlagenden Befunden Fuhrmeisters und Geigers über den apologetischen Missbrauch des Kunstidealismus für die heutige Selbstreflexion des Betriebssystems Kunst? Die ideologiekritische Betrachtung dieser Rhetorik kann nicht ausblenden, dass sie die unerlässliche Funktionsbedingung der Kunst herausstellt und überbetont, ihre Autonomie. Aller berechtigter Ärger über die fünfzehnte Documenta, der in der Öffentlichkeit reichlich kurzschlüssig mit Behauptungen einer Kontinuität des Antisemitismus seit der ersten Documenta Werner Haftmanns angeheizt wurde, darf für verantwortliche Kulturpolitiker kein Grund dafür sein, die Kunstfreiheit einzuschränken. Für Solidarität von Künstlern gegenüber dem System Politik kann es immer noch Anlässe geben, wie viele Künstler jedenfalls während der Pandemie zu erfahren meinten. Und im Pathos der Forderungen nach Aufarbeitung klingt weiter die Verklärung des Kunstbereichs mit: Je hehrer das Ideal, desto schlimmer die Forschungslücke.
In der Schlussdiskussion der Berliner Konferenz gelobten Leitungspersonen großer Kunstinstitutionen ein Tätigwerden, das die Lebenswichtigkeit der ihrer Obhut anvertrauten Gegenstände unter Beweis stellen soll. In den Worten von Ulrike Lorenz, der Präsidentin der Stiftung Weimarer Klassik, ist ein „Überwinden der Trägheit von Institutionen“ nötig, das „viel Mühe“ mache. Es gelte zu erkennen, dass Kultur „eine auch toxische Angelegenheit“ sei. Felicia Sternfeld, Direktorin des Europäischen Hansemuseums in Lübeck und Präsidentin des deutschen Nationalkomitees des internationalen Museumsverbands ICOM, verbürgte sich unter Verweis auf das Lebensalter ihrer ICOM-Vorstandskollegen für die Verbreitung der Erkenntnis, „dass Kultur nicht mehr per se apolitisch betrachtet wird“. Beim Konferenzthema ging es für Lorenz „nicht nur um wissenschafts- und forschungsintrinsische Ansätze, so komplex sie mittlerweile sein können, müssen und mögen“, sondern auch um die Frage: „Was sagt uns das für unser Leben heute?“
Eine sachgerechte Geschichte der staatlich geförderten Kulturinstitutionen nach 1945 sollte ausgehen von einer realistischen Einschätzung der Interessen hinter den heutigen Aufträgen zur Erforschung dieser Geschichte. Kontinuierliche Sachbearbeitung ist in der Kulturbürokratie nie genug. Kulturpolitik lebt von der Produktion legitimatorischer Überschüsse, von der Übertreibung der eigenen Wichtigkeit.
Source: faz.net