Medienbranche in der Schweiz: Die 1990er sind vorbei

Erst musste der Tagi-Magi-Chef gehen, nun sind es zwei Ringier-Führungskräfte: Die Schweizer Verlage arbeiten an ihrer Firmenkultur. Gut so 

Als vorerst Letzten hat es den Chefredakteur des Blicks erwischt. Christian Dorer muss eine Auszeit nehmen, vorläufig für sechs Monate. Der Ringier-Verlag, sein Arbeitgeber, wirft ihm vor, gegen firmeneigene Verhaltensregeln verstoßen zu haben. Im Raum stünden, schreibt Ringier, “Vorwürfe von bevorzugter Behandlung einer bestimmten Mitarbeitenden-Gruppe und eine zu wenig klare Differenzierung von Privat und Geschäft”. Kurz zuvor musste ein anderer Ringier-Mann gehen, fristlos. Werner de Schepper war Co-Chefredaktor der Zeitschrift Interview by Ringier, davor leitete er die Schweizer Illustrierten und den Blick. Der Trennungsgrund hier: “unterschiedliche Auffassungen als Führungspersönlichkeit”.

Das alles geschah, nur wenige Wochen nachdem eine Redakteurin des Tages-Anzeiger-Magazins im Spiegel ihrem ehemaligen Chef Finn Canonica vorgeworfen hatte, sie jahrelang gemobbt zu haben – und gegen das Verlagshaus Tamedia klagte. Es habe seine Fürsorgepflicht verletzt. Eine parallel laufende, monatelange Recherche der ZEIT bekräftigte die meisten Vorwürfe. Seinen Job beim Magazin musste Canonica bereits im vergangenen Sommer abgehen. Ende Februar wurde sein Vorgesetzter Arthur Rutishauser als Super-Chefredakteur aller Tamedia-Titel abgesetzt und die Tages-Anzeiger-Chefredaktion neu sortiert. Nun hat dort eine Frau das Sagen: Raphaela Birrer.

Was ist los in den beiden größten privaten Schweizer Verlagshäusern – und was sagen die Fälle aus über den Zustand, in dem sich die Medienbranche befindet?

Einfache Antwort: Die Schweizer Medienbranche normalisiert sich, und das – für einmal – zum Guten.

Bis vor Kurzem hatten die meisten Medienhäuser keine wirklichen Human-Resources-Abteilungen. Ihre Personalabteilungen kümmerten sich um neue Verträge, Krankentaggeld-Abrechnungen oder Sozialversicherungsfragen, aber nicht um das Arbeitgeber-Image des eigenen Hauses. Also darum, dass der Laden für Talente attraktiv ist und bleibt. Wozu auch gehört, verhaltensauffällige Chefs zu managen und Mitarbeiter, die unter ihnen leiden, bestmöglich zu unterstützen. All das war bislang gar nicht nötig. Wer Aufmerksamkeit suchte, ein Mitteilungsbedürfnis hatte, im Beruf gerne Freiheiten genoss und dazu nicht auf den Kopf gefallen war, der oder die wollte schnell einmal “etwas mit Medien” machen.

Nur: Das ist heute anders. Auch in anderen Branchen können sich die Mitarbeiter selbst organisieren, gibt es nur mehr wenige Hierarchiestufen. Dazu zahlen diese Firmen bessere Löhne und bieten großzügigere Goodies als vergünstigte Fitness-Abos oder ein paar Franken fürs Arbeitsweg-Velo. Das eigene Ego wiederum lässt sich auch bestens auf Instagram oder Twitter pflegen.

So gesehen irren all jene, vorwiegend ältere Männer, die hinter den Chef-Rauswürfen, Trennungen und Degradierungen den Aufzug einer Jakobinerherrschaft sehen. Oder wie der Medienkolumnist Kurt W. Zimmermann in der Weltwoche schreibt: “Wenn du mal in Gegenwind gerätst, dann lässt dich dein oberster Chef aus Opportunismus fallen wie eine heisse Kartoffel.” Und auf Inside Paradeplatz titelte Lukas Hässig: “Bei Ringier haben Zero-Tolerance-Jägerinnen Kommando übernommen”.

Mag sein, dass sie das tatsächlich tun. Aber weniger aus moralischen, sondern vielmehr aus strategischen Gründen.

Kaum einer der Fälle, egal ob Canonica, de Schepper oder Dorer, wird strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Mit Harvey Weinstein, dem verurteilten Sexualstraftäter, haben die drei Herren von der Dufour- beziehungsweise der Werdstrasse nichts zu tun. (Auch wenn das die Aufmachung des Spiegel-Artikels suggerierte.) Aber für sie wie für ihre Verteidiger, die ihnen nun zur Seite springen, darunter der Radiopionier Roger Schawinski, der mit Finn Canonica ein langes Interview führte und dabei zahlreiche heikle Fragen ausließ, für alle sie gilt: Die 1990er-Jahre sind vorbei.

Egal ob Frau oder Mann: Welcher Mittzwanziger, Anfang Dreißiger, Berufseinsteiger mit akademischem Abschluss will heute in einem Unternehmen arbeiten, in dem gewisse Chefs ungefragt von ihrem Sexleben erzählen, gerüchteweise Mitarbeiterinnen betöpeln, Frauen gegen ihren Willen zum Abschied küssen oder junge, gut aussehende Männer bevorzugen und mit ihnen über Mittag joggen gehen – oder sie zum Abendessen ausführen und in die Ferien einladen? Da kommt es auch nicht drauf an, ob sich die Betroffenen, wie der Tages-Anzeiger im Fall Dorer recherchiert hat, nicht als Opfer sehen. Es ist schlicht nicht im Konzerninteresse, dass nur gefördert wird, wer dem Chef optisch gefällt. Dafür sind die guten Leute zu wertvoll und zu selten. Auch die Medienbranche spürt den Fachkräftemangel.

Kann durchaus sein, dass es früher lustiger war, als in den Redaktionskonferenzen noch geraucht, über Mittag Rotwein getrunken wurde und die Feuilletonisten nur in den teuersten Hotels abstiegen, um über die Premiere am Wiener Burgtheater zu berichten. Diese Eskapaden wurden ihnen durch das Verlags-Backoffice längst gestrichen. Eigentlich ganz okay, wenn man sich dort nun nicht mehr länger nur um die Spesenrechnungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmert, sondern auch um deren Wohlbefinden und damit dafür sorgt, dass die Leute ihren Job möglichst gut machen können.

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