Spitznamen im Kampfsport werden meist auf Basis außergewöhnlicher Leistungen vergeben – man zeigt etwas Beeindruckendes und bekommt einen entsprechenden Nickname verpasst. Manchmal dreht sich die Zeitachse aber auch um, dann kommt erst der Name und die Begründung hinterher. Das ist der Fall bei Leon „Rocky“ Edwards, einem lange unauffälligen Briten, der in der „Ultimate Fighting Championship“ (UFC), der größten Mixed-Martial-Arts-Liga der Welt, über Jahre hinweg sein Können zeigte; aber nie wirklich durch etwas Großes auffiel – wie ein Conor McGregor oder ein Khabib Nurmagomedov. Bis ihn ein einziger Kick am Ende eines eigentlich schon verlorenen Kampfes im vergangenen Sommer zum Weltmeister beförderte. Eine klassische „Rocky“-Story eben.
Am Samstag verteidigt er diesen Titel (Samstag ab 22 Uhr auf DAZN) – gegen den Mann, dem er ihn im August 2022 abnahm. Der ihn zuvor bereits einmal klar besiegt hatte. Dieser dritte Kampf ist nicht nur für Edwards‘ eigene Karriere bedeutend, sondern auch für den Stand seines Sportes in Europa.
Ein Rückblick in den vergangenen Sommer: 56 Sekunden vor Ende der fünften und letzten Runde spekulierten die Kommentatoren gerade darüber, dass Edwards sich wohl damit abgefunden habe, in seinem Weltergewichts-Titelkampf eine Punktentscheidung gegen Kamaru Usman zu verlieren, den amtierenden Champion, der hier mit einem weiteren Triumph den Rekord für die meisten aufeinanderfolgenden Siege brechen wollte. Dann täuschte Edwards kurz vor Schluss einen Jab an. Und rechnete die Ausweichbewegung des Kopfes seines Gegners mit ein. Mit einem präzise ausgeführten Kick zu Usmans Kopf schickte er den scheinbar unbezwingbaren Champion auf die Bretter. Salt Lake City explodierte.
Das Ergebnis war eine Sensation, weil Edwards bis dahin von Usman über weite Strecken dominiert worden war. Dazu hatte er Ende 2015 schon einmal gegen ihn verloren, als beide noch unbekannte Neulinge waren. Nach dieser klaren Punktniederlage hatte Edwards aufgedreht, besiegte mit Donald Cerrone und Nate Diaz populäre Fan-Lieblinge, stoppte 2018 die Siegesserie des Deutschen Peter Sobotta und schlug mit dem Brasilianer Rafael dos Anjos einen früheren Weltmeister klar und deutlich.
So kam er nach Jahren des Wieder-Hoch-Arbeitens zu seiner zweiten Chance gegen Usman, der inzwischen Weltmeister geworden war. Und schien bald erneut den Kürzeren zu ziehen. Zwar gelang „Rocky“ in der ersten Runde selbst ein Takedown, was die Zuschauer und wohl vor allem Usman selbst überraschte. Auf 1300 Metern über Null aber ging dem Briten danach schnell die Puste aus. Usman, der in Denver, Colorado auf 1600 Höhenmetern lebt, trainiert und die dünne Luft daher gewohnt war, drehte auf. Edwards Trainer musste ihn in den Rundenpausen anschreien – „Hör verdammt nochmal auf, dich selbst zu bemitleiden!“ – und schien damit zunächst keinen Erfolg zu haben. Bis Edwards zu seinem lebensverändernden Tritt ausholte. „Wir hatten schon seinen Nachruf geschrieben!“, rief einer der Kommentatoren immer wieder ins Mikrofon. „Seht mich an!“, schrie ein ungläubiger Edwards. „Niemand hat an mich geglaubt!“
Nun messen sich die beiden erneut – dieses Mal in Edwards Heimat England. In den vergangenen Tagen schossen die beiden Kontrahenten verbale Spitzen gegeneinander, aber das ist Show, um ihren Kampf zu verkaufen. Die beiden respektieren sich – weil sie sich je einmal besiegt haben, aber auch, weil sie als eher leise und wenig polarisierende Athleten beide ihre Lorbeeren härter erkämpfen mussten als andere. Das verbindet. Während Glamour-Faktor-Stars wie Conor McGregor auf der Überholspur nach oben in Richtung der prestigeträchtigen Kämpfe düsen, müssen sich unauffällige Arbeiter wie Edwards und Usman einen Sieg nach dem anderen erarbeiten. Bis der Promoter keine andere Wahl mehr hat, als ihnen einen Titelkampf zuzugestehen – falls ihnen gerade kein großmäuliger Fan-Liebling mit ein paar starken Siegen wieder die Chance stiehlt.
Ob der dritte Kampf zwischen Edwards und Usman aus Fan-Sicht spektakulär wird, bleibt fraglich. Der erste Kampf war es nicht, der zweite nur punktuell, als Edwards Usman Anfangs mit einem Takedown überraschen konnte und ihn dann kurz vor Schluss brutal ausknockte. Wenig verwunderlich – und verständlich – wäre es, wenn Usman als Lektion aus der Niederlage an diesem Wochenende umso vorsichtiger kämpft.
Edwards ist vor allem zum Gewinnen da – die Action bringen andere
Für die „Oho“- und „Wow“-Momente hat die UFC daher Usmans Trainingspartner Justin Gaethje in den Co-Hauptkampf gesteckt, der gegen den Kasachen Rafael Fiziev antritt. Gaethje lässt sich verlässlich jedes Mal in eine Materialschlacht hineinziehen. Fiziev ist ein früherer Thaiboxer, der Tritten zum Kopf schon mal durch Matrix-artige Wegduck-Bewegungen ausweicht. Sie sind für die Action zuständig. Dazu gesellen sich europäisch-stämmige Stars wie der Isländer Gunnar Nelson, der Italiener Marvin Vettori oder die Schottin Joanne Wood. Edwards ist vor allem zum Gewinnen da.
Denn nur, weil er sich einen Titel holen konnte, ist die Liga mit einem so großen Event zurück nach Europa gekommen. Zwar kommt die Liga immer wieder mal für kleinere Fight Nights nach England, Schweden oder Frankreich. UFC 286 an diesem Samstag aber ist die erste in den USA im Bezahlfernsehen gezeigte UFC-Veranstaltung auf europäischem Boden seit 2016. In Deutschland war man 2018 zuletzt zu Gast, natürlich ohne einen Titelkampf. Und so hat der Ausgang des Kampfes am Samstag mittelbar auch Bedeutung für die deutsche MMA-Szene – auch, wenn keiner der zurzeit sechs Deutschen im Kader der Liga am Samstag in London ins Octagon steigt. Je erfolgreicher die Europäer sind, desto eher schwingt der Fokus der Liga zurück zum Kontinent.
Aber so ist eben Mixed Martial Arts: unberechenbar, mit hohem Einsatz. Wie es weitergeht, hängt an den Millimetern, die hier manchmal über Sieg oder Niederlage entscheiden – und damit über die Karrieren von Einzelnen genauso wie über die Entwicklung des gesamten Sports.
Source: welt.de