Claus Guth inszeniert „Elektra“ an der Oper Frankfurt

Umstandslos nennt Hugo von Hofmannsthal in seiner Tragödie „Elektra“ die Dinge beim Namen: „Unser Leib starrt von dem Unrat, dem wir dienstbar sind“. Will heißen: Es macht uns kaputt, worin wir mitspielen. Elektra, so wird sie von den Mägden zitiert, stellt eine Diagnose: psychosomatische Erkrankung infolge der schweigenden Duldung der Ermordung ihres Vaters Agamemnon durch dessen Frau Klytämnestra (Elektras Mutter) und deren Liebhaber Aegisth.

Psychosomatische Störungen aber hat, in Claus Guths Inszenierung der Oper „Elektra“ von Richard Strauss nach Hofmannsthal, vor allem Elektra selbst: Aile Asszonyi in der Titelrolle verdreht an der Oper Frankfurt ihre rechte Hand, als sei sie ein ekelhaftes, fremdes Körperteil. Sie zuckt mit dem Kopf, verzieht den Mund, hat Ticks, nur kurz, aber immer ganz allein. Alle anderen, die Schwester Chrysothemis, das Personal, scheinen im großen Ganzen gesund zu sein und der seltsamen Elektra fürsorglich zugewandt.

Diese „Elektra“ spielt nicht auf dem antiken Hof von Mykene. Hier hängt auch nicht – wie einst in Dieter Dorns Berliner Inszenierung – eine rohe Schweinehälfte als Schocker herum. Wir sind hier, bei Claus Guth, seiner Bühnenbildnerin Katrin Lea Tag und der Kostümbildnerin Theresa Wilson, im Innenraum unserer eigenen Zivilisation. Es könnte der Zimmerflur eines Hotels sein, einer Villa, vielleicht einer Privatklinik. So genau lässt sich das nicht sagen. Auf jeden Fall: weit weg von Axt und Opfer. Und doch ist diesem Raum nicht zu trauen: Seine Wände bewegen sich. Seine Türen führen in lauter Finsternisse. Eine Gardine aus leuchtenden Schnüren schiebt sich davor wie ein Wasserfall.

Dieser vielschichtige Flur ist Elektras Seeleninnenraum. Nicht entscheiden kann man, was sich wirklich darin ereignet und was die Hauptfigur nur herbeiphantasiert. Die „Studien über Hysterie“, 1895 von Josef Breuer und Sigmund Freud veröffentlicht, hatten Hofmannsthal bei seiner „Elektra“ inspiriert; einige Jahre nach der Uraufführung der Oper prägte der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung den Begriff vom „Elektrakomplex“ als weiblichem Gegenstück zum Ödipuskomplex: Eine Frau entwickelt eine überstarke Vaterbindung und empfindet die Mutter als Rivalin. Der Fall der Anna O., hinter der sich Bertha Pappenheim verbarg, liegt den „Studien über Hysterie“ zugrunde und beschreibt eine psychosomatische Erkrankung infolge starker Vaterbindung einer Tochter. Guth hat in seiner Frankfurter Inszenierung dieses Krankheitsbild ernst genommen und lässt uns an der Verwirrung hinsichtlich des Wirklichkeitsverlustes bei der Patientin wie bei deren Angehörigen teilhaben.

Wahrscheinlich hat der Mord an Agamemnon nie stattgefunden. Und Orest, den rächenden Bruder, gibt es gar nicht. Es gibt nur den leeren Sessel – das Utensil der Gesprächstherapie für die hypnotisierte Anna O.

„Meinst du, wenn ich an meinem Leib mich freute, drangen seine Seufzer, drang nicht sein Stöhnen an mein Bette?“, singt Elektra zu Orest über die Zeit, da sie den Vater vermisste. Olaf Winter lässt in diesem Moment die sonst violett gehaltene Bühne rot aufleuchten. Es ist das Rot der Liebe bei einer weiblichen, inzestuösen Masturbationsphantasie. Das zweite Rot, das des Blutes, sehen wir bei der Tötungsphantasie, als Aegisth „ermordet“ wird. Doch es gibt keine expliziten sexuellen Gesten in dieser Inszenierung; alles ist Andeutung oder Metapher geworden, diskret, aber unausweichlich.

Intime, nachdenkliche Musik

Dem korrespondiert die Musik. Sebastian Weigle am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters treibt kein äußeres Drama an. Dafür lichtet er das Gewebe der kolossalen Partitur für knapp hundert Instrumente auf, phrasiert zielstrebig, schafft Zeitinseln der Reflexion und der Intimität.

Aile Asszonyi, eine ungarischstämmige Estin, die an der Oper Frankfurt debütiert, drückt zärtlich Stirn und Nase gegen die Stirn und Nase ihrer Mutter. Wenn sie und Susan Bullock als Klytäm­nestra miteinander reden, sieht man keine zwei Vipern, die sich anzüngeln, sondern zwei Frauen, die einander einmal nahe waren und nun auf der Suche nach dieser verschütteten Nähe sind. Doch zugleich manipuliert eine die andere dabei mit krankhafter Virtuosität.

Asszonyi flutet den Saal schon bei ihrem ersten Ausruf „Allein!“. Ihre Stimme hat Wärme und Weite. Elektras Monolog nach dem Erscheinen Orests – Simon Bailey bleibt physisch eher ein Phantasma – lädt in seiner vokal überströmenden Güte bei Asszonyi zur fraglosen Identifikation mit dieser Figur ein. Alle Elektra-Klischees des Tierhaften fallen in diesem Moment ab. Nicht das Monster zeigt sich, sondern ein Mensch in seiner unausgelebten Liebesfähigkeit. Anfangs, in der Phrase „die Stunde, wo sie dich geschlachtet haben“, setzt Asszonyi das hohe As auf „Stunde“ im Pianissimo an, lässt es anschwellen und stürzt eine Dezime abwärts aus dem reinsten, schönsten Gesang fast ins Sprechen.

Susan Bullock als Klytämnestra und die schlank, ja, brillant timbrierte Jennifer Holloway als Chrysothemis machen aus ihren Partien geschliffenes, kristallklar verständliches Konversationstheater. Bullock ist keine alte Scheuche, sondern eine Dame mit – auch vokalem – Klassenbewusstsein. Alle drei Hauptdarstellerinnen rücken in ihrer nuancenreichen Beweglichkeit den Vokalstil Strauss’ nah an den drei Jahre später entstandenen „Pierrot lunaire“ von Arnold Schönberg.

Auch dessen kabarettistische Komik nimmt Guth vorweg im kurzen Dialog zwischen Aegisth (den Peter Marsh mit Frack und Zylinder singt wie einen vergnügten Graf Danilo auf dem Weg ins „Maxim“) und Elektra, die ihm mit der Taschenlampe heimleuchtet und zu ihrem eigenen Amüsement das Monster doch noch spielt. Es ist der Punkt, da der Wahnsinn in Irrwitz umschlägt. In „Elektra“ gewesen. Tränen gelacht. Eine Meisterleistung.

Source: faz.net

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