Film „John Wick 4“ im Kino

Es sieht nicht gut aus für John Wick. „Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“, wird der Satz aus Dantes Inferno, den auch die kennen, die nicht wissen, was das ist, gleich am Anfang des vierten Teils der Actionreihe um den Auftragskiller zitiert. Aber sah es für Wick je gut aus? In den drei vorangegangenen Filmen hatten zunächst russische Mafiasöhnchen seinen kleinen Hund umgebracht, das letzte Geschenk seiner verstorbenen Frau Helen. Wick hatte sich nach Helens Tod zur Ruhe setzen wollen, nimmt nun aber Rache, die so gründlich ausfällt, dass sie wiederum weitere Racheakte unterschiedlicher Mafiafamilien und Killerorganisationen nach sich zieht. Der Plot klingt simpler als der gröbste Bond-Film. Im vierten Kapitel der „John Wick“-Reihe aber arbeiten der Regisseur Chad Stahelski und die Drehbuchautoren Shay Hatten und Michael Finch den Kinokosmos, der diesen Plot einrahmt, weiter aus, und seine Dichte und Fülle stehen hinter der Bond-Welt nicht mehr zurück, mit eigener Ästhetik, eigener Mechanik, eigenen Regeln.

Dass jede Tat Konsequenzen nach sich zieht, ist die simpelste. Dass man sich überhaupt an Regeln halten muss, weil man sich sonst von Tieren in nichts mehr unterscheidet, ist die zweitwichtigste, die im Film gern von Ian McShane zitiert wird, der hier den distinguierten Besitzer des New Yorker Hotels Continental spielt, das Auftragskillern Zuflucht und Sonderservices gewährt.

Die ganze Parallelwelt ist nach dem Vorbild mittelalterlicher Gilde-Strukturen organisiert: Es gibt einen Ältestenrat und eine Hohe Kammer, die dafür sorgt, dass die Machtstrukturen im Gleichgewicht bleiben, und die Ahndung von Verstößen gegen die Regeln der Killer-Gilde aussprechen kann. Eine solche Ahndung hat John Wick bereits im zweiten Teil akzeptieren müssen: Er ist vogelfrei. Die Nachricht davon verbreitet sich in Untergrundnetzwerken, in deren Kanäle eingespeist über ein Heer von Kommunikationsdamen, die noch mit physischem Kartenmaterial, Umstecktelefonleitungen und Computern mit DOS-System arbeiten – was im ersten Teil noch wie eine nostalgische Steampunk-Anleihe wirkte, im aktuellen jedoch als clevere Unabhängigkeit vom Arbeitsalltag mit abstürzenden Microsoft-Softwareprogrammen gedeutet wird. Wenn es im Job um Leben und Tod geht, hat man keine Zeit, auf das Update zu warten. Die Hochglanzkulissen tragen viele solche Hinter- und Tiefgründigkeiten und damit zum Charme der Reihe bei.

Ein Mann wie aus den siebziger Jahren

Gespielt wird der nun von Heerscharen gejagte ehemalige Jäger im kugelsicheren schwarzen Anzug abermals von Keanu Reeves, der ein Gegenbild zu den derzeit gängigen Heldentypen setzt: weder muskelbepackt wie Dwayne „The Rock“ Johnson oder andere Superhelden noch witzig-viril wie Jason Statham. Sein Held bleibt altmodisch einsilbig, nur manchmal scheint sehr trockener Humor in einer Bemerkung durch. Reeves orientiert sich damit am Männerbild der Actionhelden aus den Siebzigerjahren: Von Clint Eastwood hat er sich die sanfte Schweigsamkeit geliehen, von Steve McQueen die Coolness, selbst in größter Hektik nicht den Emotionen nachzugeben, die unter der Oberfläche kochen, und von Charles Bronson die Bereitschaft, hässliche Dinge zu tun, die sich nicht vermeiden lassen.

Parallelwelt: John Wick (Keanu Reeves) muss alte Familienbande in Berlin reparieren : Bild: AP

Für die Kampfszenen haben Reeves und Regisseur Stahelski erneut auf die Tradition des Hongkong-Kinos zurückgegriffen, das seit den Siebzigerjahren aus Kung-Fu-Kämpfen Kunst macht. Stahelski, der früher selbst Stuntman war und Reeves in dieser Rolle beim Dreh von „Matrix“ kennenlernte, betont im Gespräch mit dieser Zeitung, die Rolle dieser Martial-Arts- und historischen Wuxia-Prügeleien für die Gestaltung der Actionszenen: „Es braucht hier ein Zusammenspiel aller Mitarbeiter beim Dreh, die richtigen Schauspieler, ein gutes Stuntteam, Choreographen und eine gute Kameraarbeit – so wie das Hongkong-Kino das vorgemacht hat.“

Im ersten John-Wick-Film war der Unterschied zu den damaligen Actionfilmen frappierend: Die Kamera folgte streng dem Geschehen, es gab kein Wackeln, um besonders wilde Kämpfe anzudeuten, keine hektischen Schnitte, die darüber hinwegtäuschen sollten, dass sich niemand Gedanken gemacht hatte, wie ein Ringen zwischen zwei Personen denn nun eigentlich wirklich aussehen würde. Das Team setzte auf Ordnung statt Chaos, die Kampfszenen waren durchchoreographiert wie sonst in Tanzfilmen; eine Technik, die im vergangenen Jahrzehnt fast schon zum Standard für Actionszenen geworden ist.

Schlägerei in einem Berliner Nachtclub

Stahelski und sein früherer Regiepartner David Leitch haben hier Maßstäbe gesetzt, mit allem, was zur Verfügung stand, wie Wick selbst mit Motorrädern, Schwertern und allerlei Handfeuerwaffen. Er kämpfte sich durch Casablancas enge Gassen, zerlegte eine marmorne Hotellobby in New York und konnte selbst einen Bleistift zur tödlichen Waffe umfunktionieren. Was blieb da noch für einen neuen Film übrig? Stahelski hat unter anderem eine ausgiebige Tour durch Berlin unternommen, um nach geeigneten Schauplätzen zu suchen, und fand diese sowohl rund um die Museumsinsel als auch in einem alten Kraftwerk. Beide Kulissen fügt ein geschickter Schnitt zu einem Berliner Nachtclub zusammen, durch dessen meterhohe Wassersäulen sich Reeves diesmal mit seinen Verfolgern prügeln muss – ohne dass die rund 300 Statisten, die man für diese Szenen engagierte, mit dem Tanzen aufhören würden, so viel Berlin-Klischee erlaubt man sich. Andere Teile der Stadt verwandelte man in einen Verkehrskreisel nach dem Vorbild des Zirkels um den Pariser Triumphbogen; das berühmte neunspurige Original konnte man für den Dreh nicht absperren, um Muscle-Cars mit Motorrädern Katz und Maus spielen zu lassen. Und als kleine Verbeugung vor den asiatischen Filmvorbildern spielt ein Handlungsstrang in Osaka, wo Reeves an der Seite von Hiroyuki Sanada und Aimée Kwan gegen den chinesischen Kampfkunstfilmstar Donnie Yen antritt (hier abermals wie schon im Star-Wars-Film „Rogue One“ als blinder Kämpfer zu sehen).

Literarische Anleihen wie das Dantezitat zu Beginn und ein paar lateinische Einsprengsel ergänzen das Tiefendekor, die Serie soll ja demnächst auch weitere Ableger erhalten – unter anderem ist ein Film mit dem Titel „Ballerina“ geplant, in dem das ehemalige Bond-Girl Ana de Armas die Hauptrolle einer Auftragskillerin spielen wird. Die Verzweigungen, die aus den robusten Grundideen noch herauswachsen mögen, laufen auf einen Gedanken hinaus, der in der Ära des Serien-Binge-Watchings und der endlosen Filmreihen eine eigene Würde hat, die perfekt zu Keanu Reeves passt: Überleben, Wachstum und Reichweite leben von der Entschlossenheit, im Regelrahmen konsequent bei der Sache zu bleiben, eher als von komplizierten Plänen, die jedem Schaden schon vorab vorbeugen wollen.

Source: faz.net

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