“Anti-Girlboss” von Nadia Shehadeh: Ein Nickerchen als Widerstand

Besser doch keine Chefin werden: Die Bloggerin und Autorin Nadia Shehadeh will in “Anti-Girlboss” erklären, warum es feministisch ist, möglichst wenig im Job zu schuften.
“Mein Lebensmotto: Keine Kinder und keine Karriere”

Sie macht einen ordentlichen Job als Angestellte in der Jugendberufshilfe, aber garantiert ohne Überstunden. Sie geht mit dem Hund in den Wald, einfach im Pyjama. Sie lässt sich stundenlang ohne schlechtes Gewissen durchs Internet treiben, recherchiert popkulturellem Gossip und Nonsens hinterher. Die Bielefelder Soziologin, Bloggerin und Ex-Missy Magazine-Kolumnistin Nadia Shehadeh, auch bekannt unter ihrem Instagram-Namen @shehadistan, hat in ihrem durchschnittshedonistischen Lifestyle ein Politikum erkannt – und etwas unerwartet Ambitioniertes und zugleich irritierend Altmodisches getan, nämlich ein Buch darüber geschrieben.

Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen beruft sich schon im Titel auf ein Internetphänomen: #Girlboss nannten sich in den 2010er-Jahren Gründerinnen von US-Unternehmen wie Sophia Amoruso, deren steile Karriere als Eigentümerin des Vintage-Klamotten-Portals Nasty Gal 2017 von Netflix verfilmt wurde (Girlboss). Was zunächst als feministisches Empowerment gegen die Tech-Boys aus dem Silicon Valley verstanden wurde, geriet aber fast ebenso schnell als neoliberales Geschäftsmodell und Selbstoptimierungsmindset in die Kritik – auch von Feministinnen, die erfolgreiche Frauen sonst feiern. Denn eine ganze Reihe Girlbosse standen ihren männlichen Kollegen an privilegierter Arschlochhaftigkeit in nichts nach oder fungierten gar als trojanische Pferde, weil ihnen Betrug weniger zugetraut wurde – wie etwa die kurzzeitige Milliardärin, Biotech-Gründerin und Anlagebetrügerin Elizabeth Holmes, deren Aufstieg und Fall Serienjunkies ebenfalls schon konsumieren konnten (The Dropout).

Die 1980 geborene Nadia Shehadeh, die für solche popkulturellen Früchte des Kapitalismus durchaus empfänglich ist, verbindet ihre Kritik des neoliberalen Feminismus mit einem Rückblick auf ihr eigenes Leben. Als Tochter eines eingewanderten Arztes und einer deutschen Hausfrau räumt sie ein, “verwöhnt und verhätschelt” worden zu sein. Allerdings mussten beide Eltern schwer schuften, um ihren fünf Kindern ein standesgemäß bürgerliches Leben zu ermöglichen. Mit 21 heiratete Shehadeh gegen den Willen ihrer Eltern; der Kontaktabbruch bedeutete, dass sie sich selbst finanzierte und parallel zum Studium in mehreren Jobs arbeitete. Nach anstrengenden Jahren stand für sie fest: “Ich wollte einen langweiligen Job im langweiligen Bielefeld, mit netten Kolleg_innen und einem Workload, den ich gut bewältigen konnte. Ich wollte ausreichend Freizeit und genug Geld verdienen, um diese gut zu verleben.” Und zwar, nachdem sich auch nach der Scheidung Beziehungen zu Männern oft als zeitraubend erwiesen, am liebsten allein oder mit Freundinnen und Freunden.

Warum aber sollte es schon revolutionär sein, eine typische Vertreterin der Mittelschicht zu sein? Darüber, dass diese tatsächlich im Schrumpfen begriffen und vielleicht noch ein letztes Residuum (relativ) heiler Welt ist, schreibt die Soziologin wenig. Und was ist mit erfolgreichen Frauen wie der US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez, der Medien-Managerin Anke Schäferkordt oder der wegen ihres Führungsstils nicht unumstrittenen Theaterintendantin Shermin Langhoff? Allesamt Opfer eines neoliberalen Mindsets oder vielleicht doch empowernde Vorreiterinnen, die anderen den Weg ebnen? Solche weiblichen Bosse interessieren Shehadeh in ihrem Manifest nicht weiter. Doch die “Idee, dass jede_r, der_die es schaffen will, es auch kann, wenn er_sie nur will”, ist für die Angestellte im Bereich Erwachsenenbildung und Jugendberufshilfe “Ausdruck einer neoliberalen Kälte, die ich mir im Laufe der Jahre abgewöhnt habe”. Schließlich hat sie in ihrem Job mit Menschen zu tun, die wegen Behinderungen, Migrationshintergrund oder als Alleinerziehende für den Arbeitsmarkt als schwer vermittelbar gelten. Dabei sei ihr bewusst, selbst eine “Handlangerin des Kapitalismus” zu sein, “was angesichts des Untertitels dieses Buches geradezu unverschämt herüberkommen muss”.

Immerhin eine, die ihre Schützlinge möglichst in Ruhe lässt, für quiet quitting plädiert (was sich wohl am besten mit “Dienst nach Vorschrift” übersetzen lässt) und sich dabei auf den Slogan “rest is resistance” schwarzer Feministinnen bezieht. Melissa Kimble oder Tricia Hersey, die in Atlanta ein nap ministry (Ministerium für Nickerchen) betreibt, ziehen eine Linie von der Ausbeutung Schwarzer als Sklaven bis zu den mies bezahlten Tretmühlenjobs und dem vor allem Frauen betreffenden Fürsorge-Overload der Gegenwart.

Doch Nadia Shehadeh bleibt weitgehend auf die heutigen sozialen Mediendebatten fixiert. Ihr unterhaltsames, anregendes Manifest für eine zufriedenstellende Work-Life-Balance sucht sich ein ethisch vertretbares und doch komfortables Plätzchen in den aktuellen Diskursen. Aber das ist schon okay: Alles andere hätte wahrscheinlich zu viel Stress bedeutet.

Nadia Shehadeh: Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen; Ullstein, Berlin 2023; 224 S., 17,99 €, als E-Book 15,99 €

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