„Landesverräter. Anarchisten. Terroristen.“ So bezeichnet Israels Premier Benjamin Netanjahu die Demonstranten, die Woche um Woche gegen seine Regierung auf die Straße gehen. Doch es reicht ein Blick auf die hohen Teilnehmerzahlen – Hunderttausende protestieren – um die Behauptung von der „linken Minderheit“ zu entlarven. Oder ein Blick ins Büro von Eliad Schraga.
Schraga ist Anwalt und Hauptorganisator der Proteste. Vom 13. Stock blickt er über Tel Aviv. In einem Regal stehen militärische Auszeichnungen und Fotos von seinen sechs Kindern in Uniform. Alle sind wie er Fallschirmjäger. Der 63-Jährige hat in drei Kriegen für sein Land gekämpft. Er war Befehlshaber einer der härtesten Einheiten der israelischen Armee. Der Erste, der im Libanon-Krieg 1982 über Beirut absprang.
Aber der Kampf gegen die Justizreform sei sein wichtigster bisher, sagt er. Denn es gehe um die DNA Israels. „Die Regierung Netanjahu will unsere liberale Demokratie in eine faschistisch-theokratische Diktatur verwandeln“, sagt Schraga. „Das werden wir verhindern.“
Wir, das sind laut Umfragen 66 Prozent der israelischen Bürger, darunter die Hälfte von Netanjahus Wählern, die gegen die Justizreform sind. Netanjahu und seine rechtsradikalen wie ultraorthodoxen Koalitionspartner wollen das Oberste Gericht entmachten, das die einzige Kontrollinstanz der Regierung ist. Grundgesetze, die Minderheiten schützen, sollen von einer knappen Parlamentsmehrheit beliebig umgeschrieben werden können. Sollte das Oberste Gericht Einspruch erheben, etwa weil ein neues Gesetz rassistisch oder frauenfeindlich ist, könnte die Regierung es einfach überstimmen. Das ist der Kern der Reform.
Eliad Schraga findet man in diesen Tagen meist in einem Zelt neben dem Obersten Gericht in Jerusalem, die Zentrale der Demonstranten. Heute hat er sich in seine Kanzlei in Tel Aviv zurückgezogen. Er brauche Ruhe, um Petitionen gegen die Gesetzesvorhaben der Regierung zu schreiben. „Die bringen jeden Tag ein neues Gesetz ein“, sagt Schraga. Man komme kaum hinterher.
In der Nacht hat die Regierung ein Gesetz verabschiedet, das Netanjahu größtmögliche Immunität verschafft. Demnach darf der Premier nicht mehr wegen Korruptionsvorwürfen für regierungsunfähig erklärt werden, sondern ausschließlich aus gesundheitlichen Gründen und auch dann nur mit einer Dreiviertel-Mehrheit des Parlaments. Netanjahu muss nun nicht mehr fürchten, dass die Generalstaatsanwältin ihn wegen Interessenkonflikten suspendieren könnte. Der Regierungschef muss sich aktuell in drei Korruptionsfällen vor Gericht verantworten.
„Das ist der eigentliche Grund für diese Reform“, sagt Schraga. „Die Regierung ist eine kriminelle Bande, die der Justiz entkommen will.“ Es sagt das mit ruhiger Stimme. Seit 33 Jahren kämpft Schraga gegen Korruption in Israel. Egal, ob von links oder rechts, sagt er. Sich selbst bezeichnet er als „rechts“ und als „Klempner der Nation“, weil er sich um die Drecksarbeit kümmere, die Rohre reinige. Der Anwalt hat die „Organisation für gutes Regieren“ gegründet.
Er hat zahlreiche Korruptionsskandale aufgedeckt, darunter den um Israels Ex-Regierungschef Ehud Olmert, der zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Auch die Ermittlungen zur „U-Boot-Affäre“ gehen auf ihn zurück. Dabei geht es um den Verdacht, dass Thyssenkrupp Bestechungsgelder zahlte, damit Netanjahu deutsche U-Boote für Israel kauft, welche die Armee eigentlich nicht brauchte.
Viele Mitglieder der neuen Regierung sind alte Bekannte für ihn. Zum Beispiel Netanjahus Koalitionspartner Aryeh Deri von der ultraorthodoxen Schas-Partei. Deri wurde bereits drei Mal verurteilt und hat eine mehrjährige Haftstrafe wegen Korruption hinter sich. Netanjahu machte ihn zum Innen- und Gesundheitsminister. Doch das Oberste Gericht urteilte, dass Deri keinen Ministerposten bekleiden könne, da er unlängst wegen Steuerbetrugs verurteilt wurde. Er hatte versprochen sich sieben Jahre von der Politik fernzuhalten, als Teil eines Deals mit der Staatsanwaltschaft, der ihm eine erneute Haftstrafe ersparte. Ohne Deri hat Netanjahu keine Regierung. Deswegen entwarf man schnell ein Gesetz, nachdem das Oberste Gericht Minister nicht ihres Amtes entheben darf.
Es gebe drei Motive für die Justizreform, sagt Schraga. Motiv eins sei, dass sich kriminelle Politiker vor dem Zugriff der Justiz schützen wollen. Motiv zwei sei der Erhalt der Privilegien für die ultraorthodoxen Parteien und ihre Klientel. In Israel herrscht schon lange Streit darüber, ob religiöse Männer und Frauen Wehrdienst leisten müssen wie alle anderen. Ultraorthodoxe Männer konzentrieren sich zumeist auf ihr Studium der heiligen Schriften. Dafür bekommen sie eine schmale Sozialhilfe.
Die neue Regierung will das Recht aufs Thorastudium festschreiben. Damit würden Ultraorthodoxe weder dienen noch arbeiten müssen. Motiv drei seien die Interessen der Siedler-Parteien. Auch ihnen stehe das Oberste Gericht im Weg, sagt Schraga, weil es Enteignungen von Palästinensern im Westjordanland verhindere. Jede der aktuellen Regierungsparteien habe also ein Eigeninteresse, das Oberste Gericht zu entmachten, sagt Schraga.
Auf den Einwurf, dass die Regierung demokratisch gewählt sei, reagiert er bissig. „Mir fallen in der Geschichte noch andere ein, die gewählt wurden, nur um dann die Demokratie abzuschaffen. Die Bürger haben Netanjahu das Mandat gegeben, Israel zu führen – nicht, die DNA des Landes zu verändern.“
Feldzug gegen Korruption
Früher war Schraga selbst Mitglied im Likud, der Partei von Benjamin Netanjahu. Er war Assistent des ehemaligen Justiz-Ministers Dan Meridor. Damals, 1990, flog das sogenannte stinkende Manöver von Finanzminister Schimon Peres auf. Peres von der Arbeitspartei versuchte, seine Einheitsregierung mit Premier Jitzchak Schamir vom Likud zu untergraben, indem er einen geheimen Pakt mit dem Schas-Vorsitzenden Aryeh Deri schloss, um eine neue Regierung zu bilden. Peres habe Likud-Minister bestochen, damit sie überlaufen, sagt Schraga.
Damals begann sein Feldzug gegen Korruption. Schraga malte kurzerhand ein Schild mit Protest-Slogans über den Verfall der Moral und zog vor Peres‘ Residenz. Dort sah ihn ein Fernsehteam von den Abendnachrichten und machte ein kurzes Interview mit ihm. „Diese Politiker haben es nicht verdient, unser Land zu führen“, sagte Schraga. Kurze Zeit später stießen tausende Menschen zu ihm, um seinen Protest zu unterstützen.
Dieses Gänsehaut-Gefühl von damals habe er heute wieder, sagt er. „Die Menschen, die jetzt draußen auf der Straße sind, sind die Stützen der Gesellschaft. Sie tragen die Armee und die Wirtschaft, sie zahlen die Steuern und die Hilfen für die Ultraorthodoxen die nicht arbeiten und keinen Wehrdienst leisten. Ohne uns wird diese Regierung nicht zurechtkommen. Wir tragen die Hälfte der Bevölkerung auf unserem Rücken“, sagt Eliad Schraga. Und: „Wir werden nicht aufgeben.“
Source: welt.de