Lies keine Oden, Sohn, bring lieber Leberwurst: Das Leben des August von Goethe

Selbst im Tod hat August von Goethe keinen Vornamen. „Goethe filius“ steht auf seinem Grabstein auf dem protestantischen Friedhof in Rom mit dem von Bertel Thorvaldsen entworfenen Bronzemedaillon, „Goethe Sohn“. Darunter hat Goethe père den Bildhauer aus Dänemark schreiben lassen, dass sein Filius „patri antevertens“, „dem Vater vorauseilend“, vierzigjährig im Jahr 1830 starb. Im neunzehnten Jahrhundert wurde das Grab zum Wallfahrtsort, aber nicht etwa, weil hier ein Weimarer Beamter mit Talent zur Ad­mi­ni­stra­tion und erlesenem Stammbaum bestattet lag. Nein, es stand für die Verbindung des Dichters Goethe mit Rom, der Stadt, in der er, nach dem Zeugnis seiner „Römischen Elegien“, seine letzte Ru­he hatte finden wollen, „Cestius’ Mal vorbei“, auf dem Friedhof an der Cestius-Pyramide. Sein Sohn, der den Wunsch des Vaters eingelöst hatte, verfiel so noch als Toter dem Segensfluch seines Namens.

Eine „Ehrenrettung“ August von Goethes unternimmt der an der Universität Parma emeritierte Germanist Stephan Oswald mit seiner Biographie. Er rennt damit offene Türen ein, denn über Kinder berühmter oder berüchtigter Vä­ter wurde nicht erst in jüngster Zeit viel Ehrenrettendes publiziert. Umso er­staun­licher ist, dass das für den Sohn des größten deutschen Dichters gerade nicht gilt. Die letzte Lebensbeschreibung Au­gusts, verfasst von Wilhelm Bode, erschien 1918; seither sind viele Einzelstudien, aber keine Gesamtbetrachtung zum Thema veröffentlicht worden. Oswald betritt also beinahe Neuland, und er tut es mit dem Selbstbewusstsein eines Restaurators, der mit ganzen Schichten abgelagerter und verkrusteter Vorurteile aufräumt.

Bild: C.H. Beck

Das geläufigste Klischee über den un­ehe­lich geborenen Sohn des Geheimrats Jo­hann Wolfgang und seiner Geliebten und späteren Ehefrau Christiane Vulpius lautet, dass er ein Nichtsnutz und Kleingeist war. Oswald widerlegt es nach allen Regeln der Biographenkunst. August war ein wechselhafter, aber braver Schüler, der sich früh mit Mineralien und Gesteinsformen auskannte. Als Kammerrat des Großherzogtums Weimar oblag ihm die Aufsicht über das Bauwesen, die er gewissenhaft versah. Ab Anfang 1816 zog ihn sein Vater zudem bei der Verwaltung der großherzoglichen „Unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst“ heran, zu denen nicht weniger als vierzehn Institutionen gehörten, darunter die heutige Anna-Amalia-Bibliothek und die Anatomische Sammlung in Jena. Schließlich übertrug ihm der alternde Dichter in je­nem Schicksalsjahr, in dem Augusts Mutter starb, auch noch die Verwaltung des goetheschen Haushalts, von den Quisquilien der Verpflegung mit Rheinwein, Leberwurst und Räucherlachs über die Be­sor­gung von Tinte und Briefpapier bis zu den nervenzehrenden Honorarverhandlungen für die „Ausgabe letzter Hand“ von Goethes Werken. Es war, wie Oswald resümiert, „ein Leben im Hamsterrad“.

In dieses Hamsterrad hatte Vater Goethe seinen einzigen Sohn ganz planmäßig hineinmanövriert. Von der amtlichen Le­gi­ti­mie­rung Augusts durch großherzoglichen Erlass über die Studienjahre in Heidelberg und Jena bis zur Assessorstelle in Kapellendorf setzte er den Filius in jeder Hinsicht aufs Gleis. Als August im Jahr 1813 in das Freiwilligenkorps eintrat, mit dem sich der Kleinstaat Weimar an der Niederwerfung Napoleons beteiligte, sorgte Goethe dafür, dass sein Sprössling möglichst weit vom Kampfgeschehen entfernt blieb. Es war womöglich der letzte Mo­ment, in dem August gegen das väterliche Regiment hätte rebellieren können; stattdessen fügte er sich. Bei der Rückkehr der siegreichen Freiwilligenverbände wurde er von einem seiner Altersgenossen, die ihn als Drückeberger verspotteten, zum Duell gefordert. Vater Goethe sorgte dafür, dass der Zweikampf verboten wurde. August kompensierte die Schmach durch einen Napoleonkult, der in seinen späten Jahren die tollsten Blüten trieb.

Seine Frau war über Augusts Tod erleichtert

In das erwähnte Schicksalsjahr 1816 fiel auch Augusts Verlobung mit Ottilie von Pogwisch, um die er jahrelang erfolglos geworben hatte. Die Verbindung mit dem kapriziösen Fräulein aus altem holsteinischem Adel scheint die einzige Lebensentscheidung gewesen zu sein, bei der sich Goethe filius nicht von seinem Alten hatte hineinreden lassen. Umso schlimmer ging der Herzensschuss nach hinten los. Ottilie war eine Musennatur, die davon träumte, ein Dichtergenie zu entdecken und unter ihre Fittiche zu nehmen, während August seine Erfüllung am Schreibtisch, im Mineralienkabinett und im Wirtshaus fand. Die Ehe der beiden war, trotz hoffnungsvoller Anfänge wie der gemeinsamen Reise nach Berlin im Jahr 1819, eine Hölle, aus der sich Ottilie in immer neue Amouren und August schließlich in eine schwere De­pres­sion flüchtete, die seine lang gehegten Pläne für eine Italienreise beschleunigte. Als sie erfuhr, dass er von dort nicht mehr wiederkehren würde, verlieh Ottilie ihrer Erleichterung freimütig Ausdruck.

Das zweite wichtige Klischee über Au­gust von Goethe kann Oswald nicht widerlegen: August war Alkoholiker. Schon als Jugendlicher konsumierte er flaschenweise Wein und Bier, und in späteren Jahren steigerte sich sein täglicher Bedarf derart, dass er nie ohne Korkenzieher und Weinvorrat aus dem Haus ging. Einen Teil dieser Sucht führt Oswald auf die Trinkgewohnheiten am Frauenplan zurück, wo bei Familien­essen der Alkohol in Strömen floss; den an­de­ren, größeren schreibt er der Seelennot eines abhängigen Lebens zu. Au­gust trank sich sein Unglück schön, weil er es nicht zu bekämpfen vermochte. Gerührt zitiert der Biograph einen Brief aus Mailand vom Juli 1830, in dem August vom Abnehmen seiner Schlafstörungen und dem „wunderbaren Gefühl“ berichtet, „eine Zeit lang ganz sein eigener Herr zu seyn“. Doch die Hochstimmung hält nicht vor. In Neapel, wo er mit „viel Gesindel“ in den Kneipen sitzt und eine Runde nach der anderen ausgibt, läuft August wieder im alten Trott. Zwar stirbt er in Rom, wie Oswald plausibel zeigt, nicht am Suff, sondern an Meningitis, aber sein frühes Ende kommt für niemanden aus seiner Umgebung überraschend.

Nach Augusts Tod haben sein Vater und Ottilie offenbar zahlreiche Dokumente seines Lebens vernichtet. So fehlt, von den Reisebriefen aus Italien abgesehen, die Korrespondenz zwischen Vater und Sohn ab 1823 fast völlig. Zu den we­ni­gen Selbstzeugnissen Augusts, die dem Autodafé entgingen, gehören zwei literarische Fragmente und ein „Stummes Ge­spräch“ ge­nannter Briefentwurf, die in Os­walds Buch zum ersten Mal publiziert werden.

Seit elf Jahren, heißt es in dem an den Vater gerichteten Brief, verwalte er, Au­gust, „diesen Platz“ als Faktotum des goetheschen Haushalts, „mit der Welle der Anforderung kämpfend mit den alten un­zu­läng­lichen Mitteln“, und „erst die Aussicht auf die nächsten Jahre gewährt zwideutig (sic!) Ruhe“. Es ist der Notschrei eines ausgebeuteten Kindes, das sich, zwischen Sohnesliebe und Lebenswillen zerrissen, vom Tod seines berühmten Erzeugers den Aufbruch in die Selbständigkeit erhofft. Der Entwurf wurde nie aus­ge­ar­bei­tet. Der Tod, der August befreien sollte, nahm ihm statt- dessen die Möglichkeit, sich neu zu er­finden. Aber das Bild seines Ringens blieb der Nachwelt erhalten. Stephan Oswald hat es in einen würdigen Rahmen gestellt.

Stephan Oswald: „Im Schatten des Vaters“. August von Goethe – Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2023. 424 S., Abb., 32,– €.

Source: faz.net

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