1. Die Gewerkschaften Ver.di und EVG wollen am Montag Deutschland lahmlegen – grundsätzlich dürfen Warnstreiks auch mal wehtun
»Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«, heißt es in einer Ballade aus Bertolt Brechts »Dreigroschenoper« – und klar eignet sich dieser Slogan prima für die gewerkschaftlich organisierten Menschen, die am Montag mit Warnstreiks den Verkehr in Deutschland weitestgehend lahmlegen wollen.
Heute haben die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft mit dem Kürzel EVG angekündigt, dass sie am Montag beabsichtigen, mit dem ganztägigen Streik das Land zum Stillstand zu bringen.
Betroffen sind der Fern-, Regional- und S-Bahn-Verkehr der Deutschen Bahn sowie weiterer Eisenbahnunternehmen, große Teile des öffentlichen Nahverkehrs, die Flughäfen, die Autobahngesellschaft sowie die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung.
Die EVG ruft rund 230.000 Beschäftigte, Ver.di rund 120.000 Beschäftigte zum Warnstreik auf. Ver.di kündigte an, den öffentlichen Nahverkehr in den Bundesländern Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Sachsen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bayern zu bestreiken. »Es wird im gesamten Bundesgebiet zu starken Verzögerungen bis hin zum Erliegen der Verkehrsdienste in allen genannten Bereichen kommen«, hieß es von den Gewerkschaften auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin.
Die Gewerkschaften begründeten ihr Vorgehen mit mangelnden Fortschritten bei den jeweiligen Tarifrunden. Ver.di zum Beispiel verhandelt für die etwa 2,5 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes bei Bund und Kommunen, unter anderem auch für die Beschäftigten im ÖPNV und an Flughäfen. Die Forderung: 10,5 Prozent mehr Geld, mindestens aber 500 Euro monatlich mehr. Die Arbeitgeber hatten in der zweiten Verhandlungsrunde Ende Februar ein Angebot vorgelegt. Es umfasst unter anderem eine Entgelterhöhung von insgesamt fünf Prozent in zwei Schritten und Einmalzahlungen in Höhe von insgesamt 2500 Euro.
Sind derart massive Streikmaßnahmen inmitten der Verhandlungen angemessen? »Man muss aufpassen, dass man das Mittel des Warnstreiks nicht überstrapaziert«, sagt mein Kollege Markus Dettmer aus dem SPIEGEL-Haupstadtbüro. Keine der beiden Gewerkschaften habe bisher das Scheitern der Gespräche erklärt. Bei den Tarifgesprächen zwischen Ver.di und den öffentlichen Arbeitgebern gehe man am Montag in auf drei Tage angesetzten Verhandlungen in die womöglich entscheidende dritte Runde. »Wenn man zum jetzigen Zeitpunkt schon so massiv vom Streikrecht Gebrauch macht, dann wird es schwierig, bei einem Scheitern der Gespräche zu eskalieren.« Grundsätzlich aber gelte für das demokratisch verfasste Recht auf Arbeitsniederlegung, so Markus: »Streiks dürfen auch mal wehtun.«
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2. Der in einer Schleuse gesunkene Frachter »Achim« blockiert weiter den Verkehr auf der Donau – wird aber wohl früher als befürchtet weggeräumt sein
Von allen womöglich durch den Streik am Montag betroffenen Verkehrsmitteln in Deutschland sind Binnenfrachter mir die sympathischsten. In Helmut Käutners großartigem Film »Unter den Brücken« und in Wolfgang Herrndorffs unvollendetem Roman »Bilder deiner großen Liebe« halten sich die Protagonisten ganz oder zeitweise auf solchen Binnenschiffen auf. Dass die Frachter viele Menschen faszinieren, hat die große Aufregung gezeigt, die es in Deutschland gab, als vor knapp zwei Wochen der Frachter »Achim« in einer Donauschleuse mit 1100 Tonnen Erzgranulat an Bord unterging. Der ungarische Kapitän und sein Steuermann retteten sich damals über Notleitern der Schleusenkammer aus dem Wasser.
Erst hieß es, die Bergung des Schiffs, das den Verkehr auf der Donau blockiert, sei sehr kompliziert und könne womöglich einige Wochen dauern. Heute berichtet mein Kollege Jan Friedmann über einen Besuch der Donauschleuse Geisling – und über Vorbereitungen zur baldigen Bergung des Havaristen. Die wird wohl einfacher als befürchtet. »An einem besseren Ort hätte das Schiff nicht sinken können«, zitiert Jan einen Ingenieur der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes.
Der gesunkene Frachter »Achim«, 85 Meter lang, acht Meter breit, hat parallel zur Schleusenmauer auf die Betonsohle der weitgehend leeren Schleuse aufgesetzt – mit einem sichtbaren Knick ungefähr in der Mitte des Rumpfes, aber immerhin noch am Stück. »Jetzt soll ein Bagger vom Grund der Schleuse den Rest des Eisenerzes wegschaufeln, der noch im Schiffsrumpf liegt«, schreibt Jan, »so kommt das Bergungsteam an das Leck.« Die Hoffnung: Mit zwei Stahlträgern entlang der Längsseiten und einigen Schweißarbeiten am Leck soll »Achim« wieder schwimmen, wenn das Wasser in die Schleuse zurückfließt.
Weil der Donaufrachter aus eigenem Antrieb wohl nicht mehr fahren kann, soll ein weiteres Schiff längsseits mit dem Havaristen gekoppelt werden und ihn flussabwärts schleppen. Die letzte Station werde »Achim« wohl in Österreich oder weiter flussabwärts anlaufen, so mein Kollege, »eine größere Werft, wo er verschrottet werden kann«. Die Blockade des Schiffsverkehrs von Deutschland in Richtung Österreich und weiter bis zum Schwarzen Meer, ebenso in die Gegenrichtung, dürfte also schon bald beendet sein. Das ist wichtig, denn »anders als üblicherweise bei einem Autounfall auf der Autobahn gibt es keine Umfahrungsmöglichkeiten«.
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3. Ungarns Regierung kündigt an, den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Wladimir Putin nicht zu vollstrecken – das soll auch von der wirtschaftlichen Misere im Land ablenken
Wie sollen die Staaten der Welt mit dem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Wladimir Putin umgehen? Die für sein Land derzeit hypothetische Frage hat Ungarns Kanzleramtsminister Gergely Gulyás heute so beantwortet, dass Putin nicht verhaftet würde, wenn er nach Ungarn käme. Es gebe für eine Vollstreckung des Haftbefehls keine rechtliche Grundlage in Ungarn. Unter Juristen ist das umstritten.
Das Land hat zwar das Römische Statut als vertragliche Grundlage des Internationalen IStGH unterzeichnet und ratifiziert. Das sei aber nicht in das ungarische Rechtssystem integriert worden, sagte Gulyás. Die Regierung in Budapest habe sich zu dem Haftbefehl gegen Putin keine Meinung gebildet. Seine persönliche Meinung sei, dass diese Entscheidungen nicht sehr glücklich seien, da sie die Dinge in Richtung einer weiteren Eskalation und nicht in Richtung Frieden führten.
Worum geht es der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán mit Statements wie dem heutigen? »Orbán glaubt wohl nicht an einen Sieg der Ukraine, und wahrscheinlich will er es sich mit Putin nicht verderben«, sagt mein Kollege Jan Puhl. Er hoffe unter anderem auf günstige Gaspreise. »Orbán tut so, als sei es die EU, die kriegstreiberisch agiere mit ihren Sanktionen – die er allesamt mit verabschiedet hat.« Er suggeriere den Ungarn zu Hause auch, dass es die Sanktionen seien, die die Inflation in die Höhe treiben, so mein Kollege, »dass also im Grunde die EU schuld ist an der wirtschaftlichen Misere im Land«.
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Traurige Truppe trotz 100 Milliarden: Ein Sondervermögen soll die kaputtgesparte Truppe retten. Doch bislang ist von den 100 Milliarden Euro kein einziger geflossen. Die Bundeswehr verliert so Zeit, die sie nie hatte.
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Nato-Chef spricht von Waffenlieferungen über lange Zeit: Nato-Chef Jens Stoltenberg sieht kaum eine Chance auf ein rasches Ende der Gewalt in der Ukraine: Russland wird seine Angriffswellen noch verstärken, so der Nato-Chef. Er nimmt Staaten wie Deutschland daher in die Pflicht.
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China will US-Zerstörer vertrieben haben – die Navy weiß davon nichts: Wer herrscht im Indopazifik? Darum streiten China und die USA seit Jahren. Rund um die Paracel-Inseln sollen sich nun die Marinestreitkräfte der beiden Länder begegnet sein, sagt zumindest Peking. Die USA widersprechen.
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Ministerpräsidenten nun umfassend vor Amtsenthebung geschützt: Die Opposition nennt das Gesetz »unanständig und korrupt«: Israels Regierungschef kann nun nur noch mit einer Dreiviertelmehrheit aus dem Amt entfernt werden – und auch das nur in wenigen Fällen. Korruption zählt nicht dazu.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Was der Ramadan jungen Menschen bedeutet
Heute beginnt auch für Millionen Menschen in Deutschland der muslimische Fastenmonat – und meine Kollegin Franziska Schindler hat sich von fünf jungen Frauen und Männern erzählen lassen, was sie mit dieser Zeit verbinden. Für sie sei der Ramadan »immer auch mit Konsumkritik verbunden«, berichtet ihr zum Beispiel eine Frau aus Berlin. »Dieses Jahr möchte ich während des Ramadan keine Fast Fashion kaufen. Ich bin davon überzeugt, dass es beim Fasten insgesamt um einen bewussteren Umgang mit Ressourcen geht – nicht nur mit dem eigenen Körper, sondern auch mit den endlichen Ressourcen der Welt.« Eine junge Muslimin aus Bochum sagt: »Die Coronaschutzmaßnahmen waren ganz im Sinn des Islam. Denn auch aus religiöser Sicht ist es geboten, die Schwachen keiner Gefahr auszusetzen. Während der Pandemie haben wir uns mit gemeinsamen Gebeten also sehr zurückgehalten.« Zugleich sei die Gemeinschaft, auf Arabisch »Umma«, für Gläubige sehr wichtig. »Während der Lockdowns hat man in meiner Gemeinde versucht, sich mit Vorträgen zu spirituellen Themen über Zoom zu behelfen – aber den analogen Austausch kann das nicht ersetzen.«
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Zockt der Einzelhandel die Verbraucher ab? Produkte im Supermarkt kosten mehr als je zuvor. Dabei sind die Großhandelspreise schon vor Monaten deutlich gesunken. Warum kommt dies nicht bei den Kunden an? Ein Preischeck für Rapsöl, Mehl, Milch, Butter und Fleisch .
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Grün und grimmig: Vizekanzler Robert Habeck setzt den Ton, Schluss mit nett: Die Grünen gehen nun auf Konfrontationskurs zu ihren Koalitionspartnern. Aber nicht alle in der Partei halten die neue Härte für eine gute Idee .
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Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kannten: Allzu viele Unternehmen verlassen sich inzwischen darauf, dass der Staat sie mit Fördergeld beschenkt – und dass er sie rettet, falls es eng wird .
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Singender Sexualratgeber: John Legend, US-amerikanischer Popkünstler, gibt in einem Video-Podcast Tipps für ein erfülltes Sexleben trotz kleiner Kinder im Haushalt. Im Podcast-Format »Call Her Daddy« berichtet er über den Alltag mit seiner Frau Chrissy Teigen, die er 2013 heiratete, und den drei gemeinsamen Kids unter anderem: »Unsere Kinder finden immer einen Weg in unser Zimmer. Also müssen wir die Tür abschließen, wenn wir eine gute Zeit haben wollen.«
Mini-Hohlspiegel
»Eine krumme Zahl an Urlaubstagen ist oft preiswerter, ›beispielsweise 13 statt 14 Tage oder 8 statt 7‹, rät Kerstin Heinen vom Deutschen Reiseverband.«
Aus der »Apotheken Umschau«
Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.
Cartoon des Tages
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Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Könnten Sie sich die österreichische Krimiserie »Tage, die es nicht gab« ansehen, die in der ARD-Mediathek verfügbar ist. Ich habe mir die acht Folgen in dieser Woche praktisch an einem Stück angesehen und bin ziemlich hingerissen vor allem von der atmosphärischen Kunst der Kriminalstory, die von den Regisseurinnen Anna-Katharina Maier und Mirjam Unger inszeniert und von Mischa Zickler geschrieben wurde. Die dreht sich um den Tod eines grausamen Internatsleiters und die Verschwörungsumtriebe von vier sehr betuchten Vorstadtfrauen im Salzburger Land. Es gebe in dem prächtig besetzten Achtteiler zwar ein paar deutliche Parallelen zur US-amerikanischen Erfolgsserie »Big Little Lies«, lobt meine Kollegin Anja Rützel. »Aber diese Miniserie schnitzt mit spröder Souveränität ihre eigene Geschichte aus diesem Basismaterial, vor allem dank viel österreichischer Nonchalance.«
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel, Autor im Kulturressort