Welches Maß an Ausbeutung ist der Mensch bereit zu ertragen? Die mehr als 25.000 Metallarbeiter in Schleswig-Holstein, die am 24. Oktober 1956 ihre Arbeit niederlegten, wollten jedenfalls nicht länger die ausbeuterischen Bedingungen, unter denen sie auf Werften und andernorts schufteten, hinnehmen. Am Ende dauerte dieser Streik 114 Tage und ging in die Gewerkschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ein. Die Arbeiter forderten eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und damit eine Gleichstellung mit den Angestellten, die Zahlung eines zusätzlichen Urlaubsgelds sowie eine Verlängerung des Urlaubs auf achtzehn Tage. Die heutige Arbeitswelt mit ihren gesetzlich geregelten Absicherungen ist auch ihrem Durchhaltewillen und vor allem Mut zu verdanken. Der Titel des Dokudramas „Die Mutigen 56 – Deutschlands längster Streik“ ist also gut gewählt.
Im Mittelpunkt des fiktiven Teils, der als dramaturgische Klammer dient, steht die Kieler Arbeiterfamilie Freese. Alfred (David Bredin), der wie seine Kameraden bei der körperlich harten Arbeit auf der Werft seine Gesundheit riskiert, bricht eines Tages zusammen. „Willst du mich zur Witwe machen?“, fragt seine Frau Emma (Anna Schimrigk), als sich Alfred noch böse hustend aus dem Bett und zur Arbeit quälen möchte – denn Krankheit konnte das finanzielle Aus bedeuten.
Onassis war ein prominenter Kunde
Lily Masuth, die Witwe eines Kieler Werftarbeiters, erinnert sich noch gut an früher und beglaubigt die Szene als Zeitzeugin: „Mein Mann hat sich oft hingeschleppt. Wenn er Grippe hatte, ist er meistens wieder hingegangen und hat sich gar nicht krankgemeldet. Es gab ja dann kein Geld.“ Währendessen füllen sich die Auftragsbücher und Taschen der Bosse, der Schiffbau boomt, die Howaldtswerke freuen sich über einen schwerreichen Kunden: den griechischen Reeder Aristoteles Onassis. Und auch die Sowjetunion sichert der Kieler Werft eine blühende Zukunft. Von diesem Wirtschaftswunder haben nur jene nichts, ohne die es das Wunder gar nicht geben würde: die Metaller.
Das Problem eines Dokudramas ist, dass es ständig von einer Welt in die andere springt, dass auf fiktionale Szenen dokumentarische folgen und umgekehrt. Die Gefahr ist, dass die Geschichte an Tempo verliert. Hat man eben noch mit den beiden Töchtern der Freeses mitgefühlt, erzählt schon der nächste Zeitzeuge von den Entbehrungen und körperlichen Qualen, aber auch der großen Loyalität unter den Metallern. Dass „Die Mutigen 56 – Deutschlands längster Streik“ (Regie Sabine Bernardi und Ingo Helm) trotzdem die Spannung hält, hat vor allem damit zu tun, dass Emma Freese den erzählerischen Ton angibt. Es war klug, ihre Perspektive zu wählen. Denn ohne den Zusammenhalt innerhalb der Familien, die ihrerseits nicht immun waren gegen den gesellschaftlichen Wandel und die Frage, was man aus einem Leben eigentlich machen könne, wäre der Arbeitskampf der Metaller wohl gescheitert. Gleichzeitig verschweigt das Dokudrama nicht, dass die Arbeiterfront auch Risse zeigte, dass es Streikbrecher gab, die von ihren Kameraden verachtet und angefeindet wurden, und dass die Männer einen Teil ihres Lohnes gern in der Kneipe um die Ecke versoffen.
Die Wut der Ausgebeuteten
Eine der stärksten Szenen spielt in einem Friseursalon, wo Tante Margit (Maju Margrit Sartorius) einer ihrer über die streikenden Arbeiter lästernden und vom Wirtschaftswunder profitierenden Kundin erzürnt entgegenschleudert, wie brutal der Werft-Job sei. Deren Reaktion steht der emotionalen Härte der Arbeitgeber den Streikenden gegenüber in nichts nach.
Die Bosse entsprechen leider allzu sehr jedem Klischee: Es sind rotgesichtige, dickbäuchige Männer, die Zigarre paffen, Cognac trinken und auf die Arbeiter herabblicken. Der König der Werft, Adolf Westphal, ist ein besonders unsympathischer Vertreter der kapitalistischen Elite, der sich von den Streikenden nicht erpressen lassen möchte. Sein größter Kontrahent, Hein Wadle (Ronald Kukulies), Betriebsrat der Howaldtswerke, ein zäher Mann, der im Widerstand gegen Hitler kämpfte, lässt sich jedoch nicht unterkriegen. Am Ende siegen die Arbeiter.
Die Kämpfe, die Angestellte heute austragen, sind andere, doch damals wie heute gilt, dass es auch um Respekt geht und dass es immer jemanden gibt, der für den Reichtum der anderen einen hohen Preis bezahlt.
„Die Mutigen 56 – Deutschlands längster Streik“ läuft heute um 21.45 in der ARD.
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/die-mutigen-56-deutschlands-laengster-streik-in-der-ard-willst-du-mich-zur-witwe-machen-19680820.html