Premiere of Anne Teresa De Keersmaeker in Brussels | EUROtoday

Vier Jahrzehnte umspannt diese Karriere. Es waren wichtige Jahrzehnte des postmodernen Tanzes, Jahrzehnte der Durchsetzung dessen, was wir heute zeitgenössischen Tanz nennen. 1983 hat die belgische Tänzerin und Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker in Brüssel ihr Ensemble „Rosas“ gegründet und im selben Jahr mit „Rosas danst Rosas“ ein frühes Meisterwerk geschaffen. Da war sie gerade 23 Jahre alt. Seither ist ihre Produktivität ungeschmälert; ein konstanter Strom von Choreographien fließt aus den Quellen ihrer künstlerischen Energie, Disziplin, Sensibilität und Kooperationsfähigkeit. Ihre Arbeit an ihrem Bewegungsstil, der zugleich hochmusikalisch, präzise und natürlich fließend wirkt, ist von beeindruckender Kontinuität.

An ihrem Werkkorpus kann man ablesen, wovon diese nicht ermüdende künstlerische Phantasie sich nährt. Es sind einerseits ihre breitgefächerten musikalischen Interessen – sie tanzte zu Bartok, Mozart, Bach, Schönberg, Steve Reich, und zu „Bitches Brew“ von Miles Davis. Es sind andererseits ihre intellektuellen Interessen, sie liest Peter Handke, sie arbeitet immer mit Dramaturgien. Drittens geht sie gerne Kollaborationen ein. Außerdem kann sie sich auf die von ihr ausgewählten und oft auch an ihrer Schule ausgebildeten Tänzer verlassen, die ihre genauestens auf die Musik reagierenden und darum zähltechnisch oft schwierig auszuführenden Phrasen fehlerlos präsentieren.

Vier Männer für Vivaldis vier Jahreszeiten

Das Rosas-Ensemble besteht aus denkbar unterschiedlichen Bühnenpersönlichkeiten, brillanten Interpreten einer Kunst, die im Prozess mit ihnen entsteht, ohne Rollenbeschreibungen oder andere geistige Landkarten. Das ist auch eine Leistung de Keersmaekers, ein Ensemble, das sich ja regelmäßig erneuert und verjüngt gegenüber einer älter werdenden Choreographin, so lange zusammenzuhalten. Die anderen bedeutenden Kollaborateure sind Musiker, Regisseure, Choreographen. Mit ihrer Schwester Jolente De Keersmaeker hat Anne Teresa Peter Handke tänzerisch inszeniert, eine ihrer besten Arbeiten.

So erfindet sich De Keersmaeker je neue Fragen und Aufgaben und bleibt sich dabei als Choreographin doch gleich. In ihren eigenen Brüsseler Produktionsräumen präsentierte sie jetzt am zweiten Tag des großen belgischen „Kunsten Festival des Arts“ ihre jüngste Produktion. Mit dem Choreographen Radouan Mriziga hat sie ein Männerquartett geschaffen, das zu Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ getanzt wird und zu der gleich langen Stille, mit der De Keersmaeker und Mriziga ebenfalls tanzen lassen. Gut neunzig Minuten dauert so der mit Vivaldis Ur-Bezeichnung „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ überschriebene Abend, der einige wunderschöne Passagen hat, aber auch Längen, und Vagheiten.

Die Tänzer Lav Crncevic, José Paulo dos Santos, Nassim Baddag und Boštjan Antončič in in Brüssel.Anne Van Aerschot

Mit der Wahl der Einspielung beweist De Keersmaeker erneut ihren sicheren Musikgeschmack. Sie wählt Amandine Beyers Aufnahme von 2015: rauh, krachend präzise und auch sehr süß und sanft, wo es der Barockgeigerin richtig erscheint. Virtuosität erscheint bei Beyer, mit der De Keersmaeker schon zuvor zusammengearbeitet hat, als eine Folge der Intensität ihrer Liebe zur Barockmusik und eher als ein Ausdruck von Leidenschaft denn der kühle Beweis technischen Könnens. Was Beyer an Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ herrlich herausarbeitet, ist seine thematische Verspieltheit und die Erfindungskraft, mit der er die Natur selbst zum Klingen bringt – ihre Singvögel oder einen bellenden Hund, ein Sommergewitter, das unter den Schlittschuhkufen knisternde und knirschende Eis, das Prasseln und Flackern des Feuers an einem Winternachmittag.

Und hier kommt der Punkt, wo es zwischen der Choreographie und der Musik immer wieder knirscht. Wunderschön kosten die beiden Choreographen die schaupielerischen und gestischen Fähigkeiten ihrer fabelhaften Tänzer Boštjan Antončič, Nassim Baddag, Lav Crncevic und José Paulo dos Santos aus. Alle knien etwa im Kreis und halten die Hände vor sich, als wollten sie sie über dem Feuer wärmen. Antončič, dem das lange, in der Stille getanzte Solo des Anfangs gehört, springt und schwingt seine Arme, als wäre er ein Vogel. Die vier legen die Unterarme zusammen und bewegen sich in einem Reigen, um Vivaldis Hirtentanz die Ehre zu erweisen. Im Sommer legen sie die Handrücken auf ihre Stirn, als hielten sie die Hitze wirklich nicht mehr aus, auch liegen sie dann herrlich schläfrig herum. Aber viel zu lang im Vergleich zu diesen kleinen Reverenzen an die Szenen, die Vivaldis zur Komposition verfasste Sonette ja genau entwerfen, dauern die gleichsam abstrakten Passagen der Choreographie.

Es wird schon klar, dass auch Mriziga und De Keersmaeker nach dem schmalen Grat zwischen abstrakter und explizit gestischer Bewegungsführung suchen, analog zu Vivaldis Musik. Aber die Ausgangslage von Tanz und Musik ist zu verschieden. Der Tanz will etwas nicht geben, kann vielleicht etwas nicht geben, wovon die Musik voll ist. Die Körper-Rede müsste auf der Bühne auch von einem Glück des Naturerlebens sprechen, überfließen von Vivaldis Seligkeit und seinem Aufgehobensein. Dahin kann und will der Tanzabend nicht zurück, oder man hat keinen Zugang dazu gefunden, es sich selbst quasi verboten. Das ist das Ermüdende des Abends, der etwas Vergrübeltes, Gedämpftes, wie mit angezogener Handbremse Gefahrenes hat. So toll es auch ist, den Tänzern zuzuschauen, manchmal kann man sich bei De Keersmaeker nicht des Eindrucks erwehren, man säße einem Manierismus auf. Es wiederholt sich, auch wenn das Stück tänzerisch neue Einflüsse zulässt und wunderbar integriert – wie etwa aus dem Breakdance.

In einem Vorwort im Programmheft erklären Mriziga und De Keersmaeker ihr Unwohlsein in einem künstlerischen Prozess, der stattfindet, während in der Welt gewalttätige Auseinandersetzungen toben. Darüber ein Stück zu machen, ist für Tanz eher schwierig, auch wenn der Versuch die Choreographen ehrt. Es ist wohl dieser innere Konflikt, der den Eindruck erweckt, das Stück wisse nicht, wohin es will. Die Müdigkeit und Traurigkeit, die Hilflosigkeit angesichts der Kriege empfinden wir alle. Aber das Beschwerte, Sorgenvolle dieses Abends kontrastiert Vivaldis überschwänglicher Freude über rauschende Blätter und prasselnden Regen auf nicht zuträgliche Weise.

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