Anne Lenk’s “Emilia Galotti” in Hamburg | EUROtoday

In Programmheften zu neuen Inszenierungen werden oft die Regisseurinnen und Regisseure interviewt und können dann erzählen, warum sie sich mit welchem Werk beschäftigen, wie sie es auf die Bühne bringen wollen, wie sie überhaupt arbeiten. So ein Forum in eigener Sache ist freilich Fluch wie Segen: Wenn es die Zuschauer vor der Vorstellung lesen, können sie nämlich im Anschluss direkt Theorie und Praxis vergleichen. Und über manchen Satz stolpern, in dem viel mehr oder ganz anderes versprochen wurde, als später zu sehen war – wie nun bei „Emilia Galotti“ am Thalia Theater Hamburg. Über ihre Auseinandersetzung mit Gotthold Ephraim Lessings großem Klassiker etwa sagt die Regisseurin Anne Lenk: „Mich interessiert das Stück in all seiner Komplexität.“

Das klingt erst mal gut, denn in diesem bürgerlichen Trauerspiel, uraufgeführt 1772 in Braunschweig, geht es außer um Frauen und Männer, Begehren und Moral, Gewalt und Leidenschaft auch um gesellschaftliche Macht und elementare soziale Unterschiede. Ein Prinz verstößt seine Geliebte, die Gräfin Orsina, weil er sich in die schöne, junge Emilia Galotti verguckt hat, die allerdings „ohne Vermögen, ohne Rang“ ist. Sie soll den Grafen Appiani heiraten, der mit ihr weg vom höfischen Stadtparkett aufs Land ziehen will. Das ist dem Prinzen gar nicht recht, er lässt den Grafen ermorden und Emilia samt Mutter auf sein Lustschloss bringen. Emilia, die für seine sexuellen Avancen durchaus empfänglich ist, wählt den Tod, um ihrem Bild von sich selbst treu zu bleiben. Oder dem, das man ihr anerzogen hat?

Was taugt ein Schwimmbecken ohne Wasser?

Für Anne Lenk ist Emilia keine Frau im Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung, hingegen, auf heutige Blickweisen getrimmt, ein fremdbestimmtes Opfer – obwohl sie sich ihren Grafen noch am Tag der Hochzeit geziert vom Leibe hält und den Prinzen neugierig wie ein attraktives Marsmännchen berührt, das forciert mit ihr flirtet und dessen Existenz ihr völlig unwahrscheinlich vorkommt. Maja Schöne ist als Emilia jedoch höchstens ein blasser halbdramatischer Umriss, der auch nicht an Kontur gewinnt, als sie sich den Verlobungsring vom Finger reißt, nachdem ihre Kutsche überfallen wurde und sie sich absurderweise frei von allen Zwängen fühlt.

Wie um diese Figur mit ihrem Gegenteil zu ergänzen, spielt Maja Schöne in Anne Lenks Inszenierung überdies die philosophierende Gräfin Orsina (in Hosen). Denn Frauen, höre es, dummes Pu­blikum, sind nicht bloß schön (Emilia), sondern außerdem klug (Orsina)! Dass in Lessings Stück Klassengegensätze zwischen ihnen liegen, dass sich der triebhafte Prinz über ihre pseudofeministische Allianz gewiss sehr freuen würde (nimm zwei), ist in dieser geschichtsvergessenen Interpretation völlig unerheblich. Stattdessen illustriert Anne Lenk den stark gekürzten Text bunt und schrill und schnell, mit harten Lichtwechseln, ein bisschen Video und reichlich kleisterhafter Musik zwischen Verdi und „Vertigo“.

Das Bühnenbild von Judith Oswald erinnert an ein schmales, grün gefliestes Bassin ohne Wasser, dessen Wandteile sich wie von Geisterhand bewegen können. Es erstreckt sich quer über die Bühne und hat keine Tiefe, wie die Inszenierung ja auch nicht. Die Personen sind anfangs in übertrieben historisierende Kostüme von Sibylle Wallum gesteckt und tragen gruselige Langhaarperücken: Jirka Zett in Blond als tuntig angehauchter Prinz oder Cathérine Seifert gelockt als dessen Kammerdiener Marinelli. Sandra Flubacher als Emilias Mutter Claudia hat viel Hochgestecktes eher lila auf dem Kopf, Bernd Grawert als Emilias Vater Odoardo zur Glatze ein kleines Zöpfchen. Es sind bizarre Karikaturen, die einander lässig ihren Text um die Ohren hauen, weil ohnedies keiner daran glaubt.

Irgendwie kriegt man die Story schon mit, aber bestenfalls in groben Zügen und mit besserwisserisch aufgepinselten Oberflächenreizen. Was dahintersteckt und uns über die Jahrhunderte hinweg etwas angehen könnte, wird nur als banale Aktualisierung gestreift. Die Inszenierung von Anne Lenk ist vor allem ein so geschickt wie geometrisch ausgelotetes Turnier, an dessen Ende die Titelheldin nicht von ihrem Vater getötet wird. Jetzt steht sie allein an der Rampe und teilt uns strahlend mit, dass sie ab nun „nicht mehr eure Emilia“ sei. Das war’s dann nach 95 Minuten, und das war – schlag nach bei Lessing – unterkomplex.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/anne-lenks-emilia-galotti-in-hamburg-19762080.html