In der britischen Medienlandschaft ist „Tortoise“ ein kleiner Fisch. Das Start-up trat 2019 mit dem Ehrgeiz an, in der Flut ununterbrochener Nachrichten einen ausgeruhten Blick auf das Geschehen zu liefern. Seither hat die Firma in manchen Kreisen mit Podcasts Ansehen gewonnen, aber 16 Millionen Pfund verloren. Der letzte Jahresabschluss wies bei einem Umsatz von 6,2 Millionen Pfund einen Verlust von 4,5 Millionen Pfund aus.
Jetzt sieht dieser kleine Fisch seine Zukunft in der Fusion mit dem „Observer“, der ältesten Sonntagszeitung der Welt, die seit 1993 dem „Guardian“ gehört. Dessen Muttergesellschaft, The Scott Trust, die über ein Stiftungsvermögen von 1,3 Milliarden Pfund verfügt, bekundet, man könne sich den nicht zuletzt wegen der Investition in die Expansion des „Guardian“ geschrumpften „Observer“ nicht mehr leisten. Der „Guardian“ hatte sich den Titel seinerzeit gesichert, um den „Independent“ abzuwehren, der den „Observer“ mit seiner inzwischen eingestellten Sonntagszeitung zusammengelegt hätte.
Die Werte des liberalen Journalismus aufrecht erhalten, und wie?
Die Ambitionen von „Tortoise“ und das Schicksal des 233 Jahre alten „Observer“ sind eine Fallstudie zur ohne Kompass verlaufenden Neuorientierung der Medien. Wenn ein Start-up, das Verlust macht, dem etablierten „Guardian“ die Verlust machende Sonntagszeitung abnimmt, drängt sich die Frage auf, wer hier wen rettet, zumal die Muttergesellschaft, wohl wegen des Protestes der Belegschaft, sich mit fünf Millionen Pfund beteiligt und im Firmenvorstand unter dem Vorsitz von Matthew Barzun, „Tortoise“-Mitgründer, Investor und ehemaliger US-Botschafter in London, als auch im Redaktionsvorstand einen Sitz hat, um zu gewährleisten, dass die Werte des liberalen Journalismus aufrecht erhalten werden, denen der Scott Trust verpflichtet ist.
Damit sollen die „Guardian“- und „Observer“-Mitarbeiter beschwichtigt werden, die zu 97 Prozent für Arbeitskampfmaßnahmen und zu 93 Prozent für Streik gestimmt haben. Sie werfen der Muttergesellschaft vor, die vertragliche Verpflichtung gegenüber der Sonntagszeitung gebrochen zu haben. Im Stiftungszweck wird diese Bindung jedoch nicht ausdrücklich genannt. Dort steht, dass der vorrangige Zweck die Sicherung der Unabhängigkeit des „Guardian“ auf ewig sei. Der „Observer“ fällt in die Kategorie anderer Aktivitäten, die mit dem Ziel in Einklang stehen sollen. Mehrere frühere Chefredakteure des „Observer“ haben sich gegen den „Verkauf“ ausgesprochen. Ihnen pflichten zahlreiche Prominente aus dem Kulturleben bei, darunter der Thrillerautor Robert Harris und der Künstler Grayson Perry.
Der „Tortoise“-Mitgründer und Chefredakteur James Harding indes glaubt, die Dynamik und die digitalen Kompetenzen seines Start-ups verbunden mit der Autorität des „Observer“ läuteten ein neues Kapitel des „verantwortungsvollen liberalen Journalismus“ ein. Er hat versprochen, die Printausgabe zu erhalten. Den „Observer“-Journalisten macht er die Übernahme damit schmackhaft, dass in Sparten wie Sport, Wirtschaft und Ausland investiert werde und das Blatt eine eigene digitale Präsenz erhalte. Bislang liefen „Observer“-Texte online beim „Guardian“.
„Guardian“-Chefin macht sich lächerlich
Als Vorbild nennt Harding die US-Zeitschrift „Atlantik“, die ihre gedruckte Ausgabe habe, es dank digitaler Expansion auf eine Million Abonnenten bringe und schwarze Zahlen schreibe. Die Belegschaften von „Guardian“ und „Observer“ verdächtigen Harding indes, er wolle sich der Macht der Marke bedienen, um „Tortoise“ über Wasser zu halten. Sie unterstellen auch, dass der Deal der Freundschaft Hardings zu Anna Bateson, Geschäftsführerin der Guardian-Mediengruppe, zu verdanken sei. Andere Investoren seien nicht in Betracht gezogen worden. Dale Vince, Gründer des größten britischen Anbieters von grüner Energie und Labour-Geldgeber, hatte Interesse, kam aber nicht weiter.
Als eine Redakteurin dies zur Sprache brachte, soll die Chefredakteurin Katharine Viner sie des Sexismus bezichtigt haben. Einem Redakteur, der in einer Betriebsversammlung kritisierte, der Scott-Trust-Vorsitzende Ole Jacob Sunde kenne keinen einzigen Journalisten beider Blätter, unterstellte Viner Ausländerfeindlichkeit.
Ihre Haltung ist symptomatisch für einen Journalismus, der Identitätspolitik als Doktrin vertritt. Damit hat der „Guardian“ unter Viners Leitung Sympathien verspielt und in der Trans-Debatte führende Kolumnistinnen verloren, die sich, als „transphob“ gebrandmarkt, zensiert fühlten. Am Tag nach Trumps Wahlsieg, von dem sie schrieb, dass er eine Million Jahre nachhallen könnte, machte sich Viner zum Gespött, indem sie ihren „traumatisierten“ Berichterstattern Unterstützung anbot und gelobte, dem künftigen Präsidenten Paroli zu bieten.
Zunächst skeptische Mitglieder des Scott Trust ließen sich derweil überzeugen, für den „Observer“ sei es das Beste, von „Tortoise“ übernommen zu werden. Dass Harding kürzlich noch mit CNN über eine Anstellung als Geschäftsführer gesprochen haben soll, dürfte das Vertrauen in seine Versprechungen nicht erhöhen.
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/verkauf-des-observer-an-tortoise-stoesst-auf-kritik-110164055.html