Nova Reid: “Weißen Menschen wurde anerzogen, für uns kein Mitgefühl zu haben”
“Weißen Menschen wurde anerzogen, für uns kein Mitgefühl zu haben” – Seite 1
Nicht rassistisch zu sein ist nicht nur eine moralische Einstellung, sondern oft unangenehme Arbeit. In ihrem hauptsächlich an Weiße gerichteten Buch The Good Ally erklärt die Britin Nova Reid, wie man das macht. Nova Reid ist in Großbritannien der bekanntesten Autor:innen im Bereich Antirassismus.
ze.tt: Nova Reid, was ist ein Ally – also ein:e Verbündete:r?
Nova Reid: Ein Ally ist niemand, die:der denkt, dass Antirassismusarbeit eine Nebenbeschäftigung ist, um etwas für die ‘armen Schwarzen’ zu tun. Es geht darum, wirklich Seite an Seite mit Schwarzen Menschen zu stehen. Das bedeutet, für bessere Beziehungen zwischen uns Menschen zu sorgen und dafür auch persönlich Verantwortung zu übernehmen. Im Grunde genommen heißt es, ein besserer Mensch zu sein.
ze.tt: Die meisten Menschen würden von sich sagen, sie seien antirassistisch eingestellt. In Ihrem 2021 erschienen Buch The Good Ally unterscheiden Sie zwischen diesem Selbstverständnis und tatsächlicher Allyship.
Nova Reid: Wir beharren auf einer zu simplen Denkweise: nämlich, dass Rassismus immer offener Hass ist. Als ob sich das Problem mit Rassismus nur auf Menschen beschränkt, die bewusst rassistisch handeln und die glauben, dass sie überlegener sind, weil sie weiß sind. Das ist eine zu einfache Erklärung. Es ist leicht zu sagen: ‘Der ist schlecht, weil er offen rassistisch handelt und ich bin gut, weil ich das nicht mache.’ Es geht aber nicht nur um Rassismus, der bewusst und absichtlich stattfindet.
ze.tt: Sondern?
Nova Reid: Es geht auch um Faktoren, die institutionellen Rassismus ermöglichen. Rassismus passiert nämlich nicht immer bewusst und intentional. Für Schwarze Frauen in Großbritannien ist die Wahrscheinlichkeit, während einer Geburt zu sterben, viermal höher als für weiße Frauen. Es gibt eine unverhältnismäßig hohe Zahl Schwarzer Kinder, besonders Schwarzer Jungen, die keine angemessene Ausbildung erhalten. Und eine extrem hohe Zahl Schwarzer Männer, die von der Polizei getötet werden. Weiße Frauen verdienen schlechter als weiße Männer – aber sie verdienen besser als Schwarze Frauen. Diese Beispiele zeigen, dass wir mit unserem Rassismus nicht einfach durch sind. Er ist inzwischen nur besser versteckt.
ze.tt: Wenn man das begriffen hat, wie kann man dann ein:e Verbündete:r sein?
Nova Reid: Nehmen wir das Beispiel aus der Medizin. Ich habe gesagt, dass es für Schwarze Frauen ein höheres Risiko gibt, während einer Geburt zu sterben. Wer heute auf einer Entbindungsstation arbeitet, kann also ein:e Ally sein, indem er:sie Patient:innen zuhört und ihnen glaubt, wenn sie sagen, dass sie Schmerzen haben. Was man dazu wissen muss: Der Begründer der modernen Gynäkologie, der US-Amerikaner James Marion Sims, experimentierte Mitte des 19. Jahrhunderts an versklavten Schwarzen Frauen. Ohne deren Zustimmung und ohne Betäubung. Während Sims seine sogenannten Experimente durchführte, kam er zu der vermeintlichen Erkenntnis, dass Schwarze dickere Haut hätten und deshalb mehr Schmerzen aushalten könnten. Was hat das mit Entbindungsstationen heute zu tun? Es gibt eine Studie von 2016, die besagt, dass 50 Prozent der Befragten Mediziner:innen immer noch glauben, dass Schwarze Menschen mehr Schmerzen aushalten könnten.
ze.tt: Mir ist im Studium und später im Beruf etwas aufgefallen. Wenn jemand sich entschuldigen wollte, weil er:sie etwas Rassistisches gesagt hat, dann wurde das Wort “rassistisch” in der Entschuldigung so gut wie nie ausgesprochen. Es hieß dann eher: ‘Das war vielleicht nicht ganz richtig, das war politisch nicht korrekt oder ich weiß, dass man so etwas nicht mehr sagt.’ Sie sagen, dass der Grund Scham ist. Warum Scham?
Nova Reid: Wenn wir das Wort White Supremacy hören, dann denken wir häufig an Männer mit spitzen weißen Kapuzen. Dabei geht es nicht nur um Einzelpersonen, sondern um eine Infrastruktur, die geschaffen wurde, um mehr als 400 Jahre transatlantischen Sklavenhandel zu ermöglichen. Es gab Gesetze, die Afrikaner:innen als nicht menschlich betrachteten. Was für hunderte Jahre als normal galt, verschwindet nicht einfach durch ein paar Gesetzesänderungen. Und was passiert, wenn man sich plötzlich der eigenen Rolle in all diesem menschlichen Leid bewusst wird? Man schämt sich. Nicht nur individuell, sondern kollektiv. Die Leute wollen aus Scham nicht über Rassismus sprechen. Sie wehren sich und leugnen, weil sie ihre Position verteidigen wollen. Und während sie damit beschäftigt sind, sich zu verteidigen, konzentrieren wir uns nicht auf das Leid, das wir eigentlich lindern sollten. Wir drehen uns im Kreis.
ze.tt: Das heißt, wenn man wirklich ein:e Verbündete:r sein will, sollte man sich mit der eigenen Scham auseinandersetzen.
Nova Reid: Niemand ist ein perfekter Mensch, ich auch nicht. Wir sind alle in der Lage, Dinge zu sagen, die anderen schaden. Aber man sollte dazu bereit sein, diese großen Gefühle wie Scham, aber auch Trauer, die damit einhergehen, zu überwinden und zu bearbeiten. Dafür braucht man vielleicht ein Gespräch mit anderen Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder eine Therapie. Scham wird eher mehr, wenn wir nicht über die Dinge sprechen, derentwegen wir uns schämen.
ze.tt: Wenn man Rassismus benennt, zum Beispiel in einem Uniseminar, dann gibt es erfahrungsgemäß eher Tränen, bei denen, die sich rassistisch verhalten haben. Warum?
Nova Reid: Durch diese Taktik wendet sich alle Aufmerksamkeit auf sie. Indem die Täter:innen sich selbst als Opfer darstellen, entbinden sie sich davon, Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen. Weinen ist in diesem Moment eine Form der Manipulation und der Kontrolle.
ze.tt: Ist es vielleicht so, dass eine Gesellschaft erst White Fragility überwinden muss, bevor sie überhaupt daran denken kann, Rassismus zu überwinden?
Nova Reid: Ich würde das nicht mal White Fragility, weiße Zerbrechlichkeit, nennen. Es geht einfach darum, dass die Leute ehrlich über ihren Rassismus sein müssen und über ihre Mitschuld. Mitschuld kann auch sein, jedes Mal mit den Augen rollen, wenn jemand in den Medien etwas über Rassismus sagt oder fragen: ‘Warum muss jetzt bei allem immer um Race gehen?’ Oder in der Medizin: Warum wird Schwarzen oder Menschen of Color nicht geglaubt, wenn sie sagen, dass sie Schmerzen haben? Weißen Menschen wurde anerzogen, für uns kein Mitgefühl zu haben. Es geht also nicht nur um White Fragility. Der Begriff entlässt die Leute aus der Verantwortung.
ze.tt: Inwiefern?
Nova Reid: Wenn das anhaltende Leid, das Schwarzen Menschen widerfährt, insbesondere durch die Strafverfolgungsbehörden, stattdessen Tieren widerfahren würde – die Menschen wären empört. Sie würden ganz genau wissen, was zu tun ist. Sie würden nicht so tun, als wüssten sie nicht, was sie sagen oder was sie tun sollen. Der Begriff White Fragility ist nicht zutreffend. Er zeichnet das Bild, dass weiße Menschen zart besaitet wären und das stimmt nicht.
Ein Gespräch reicht nicht aus
ze.tt: In Deutschland wurde erst nach den Protesten nach der Tötung von George Floyd 2020 gesellschaftlich anerkannt, dass auch wir ein Problem mit strukturellem Rassismus haben. Zwei Jahre später stelle ich fest, dass weniger über Rassismus gesprochen wird. Manchmal wirkt es so, als hätten Menschen, die sich als antirassistisch gebildet verstehen, entschieden, sich nicht mehr damit zu beschäftigen. Warum ist das so?
Nova Reid: Sie sind abgestumpft.
ze.tt: Warum?
Nova Reid: Meiner Meinung nach haben viele Dinge dazu geführt, dass es nach dem Tod von George Floyd so eine Bewegung gab. Zum einen war die Welt im Lockdown und viele von uns hatten mehr Zeit. Hinzu kamen reflexartige Schuldgefühle und jede Menge Solidaritätsbekundungen. Von Unternehmen, die plötzlich alles Mögliche tun wollten. Ich glaube, viele Menschen haben versucht, die Allyship-Checkbox abzuhaken. Wenn sie eine Tablette nehmen könnten, um das Rassismusthema abzuhaken…
ze.tt: … dann würden sie das tun.
Nova Reid: Aber dafür braucht es nun mal Arbeit, Konsequenz, Ehrlichkeit und Verletzlichkeit. Allyship bedeutet, dass wir Menschen zur Verantwortung ziehen. Insbesondere Menschen, die wir lieben.
ze.tt: Nach dem Mord an George Floyd hat sich noch etwas geändert: viele Freund:innenschaften. Weil weiße Menschen anerkannt haben, dass für ihre angeblich nicht so gemeinten rassistischen Witze noch eine Entschuldigung ausstand. Oder weil Schwarze Menschen diese Entschuldigung eingefordert haben. Diese Gespräche können sehr unangenehm sein. Wie kann man als Betroffene:r entscheiden, ob es sich lohnt, sie zu führen?
Nova Reid: Es gibt ein paar Fragen, die sollte man sich stellen: Gibt es eine Chance für diese Freund:innenschaft, das Problem zu überwinden? Bin ich bereit, das Risiko einzugehen, auch wenn es nicht klappt? Es könnte sein, dass die andere Person sich abwendet.
ze.tt: Warum?
Nova Reid: In Freund:innenschaften und Beziehungen neigt man dazu, bei solchen Auseinandersetzungen in ein Gut-oder-Böse-Schema zurückzufallen. Wegen der Nähe zueinander sagt die eine Person dann: ‘Natürlich bin ich kein Rassist, ich bin doch dein Freund!’ Darauf kann man antworten: ‘Ich sage nicht, dass du ein Rechtsextremist bist. Ich sage, dass ich von dir Rassismus erlebt habe und das ist verletzend. Ich kann nicht mit dir zusammen sein, wenn du dich nicht damit auseinandersetzt.’ Was viele dann aber nur noch hören ist, sie seien ein schlechter Mensch – und dann schalten sie ab.
ze.tt: Wie sollte so ein Gespräch also ablaufen?
Nova Reid: Das ist nichts, was sich in nur einem Gespräch lösen lässt. Um die Form von Intimität aufzubauen, in der das möglich ist, braucht es Zeit. Die meisten Menschen werden solche Unterhaltungen mit ihren Freund:innen, die rassistisch sind, nicht führen, sondern einfach den Kontakt einschränken. Obwohl sie vorher schon ihr Schwarzsein minimiert und sich selbst zurückgenommen haben, um in dieser Freund:innenschaft oder Beziehung überhaupt bestehen zu können. Das ist schlecht für die mentale Gesundheit. Da müssen ein paar erwachsene Entscheidungen getroffen werden: Die Leute zur Verantwortung zu ziehen oder sich selbst aus der Gefahrenzone zu entfernen. Auch wenn die Beziehung uns eine Zeit lang bereichert hat.
Menschen, die hellere Haut haben, sind in der Gesellschaft immer noch mehr wert als Menschen, die dunklere Haut haben.
ze.tt: Haben Sie ein Beispiel?
Nova Reid: Nach dem Tod von George Floyd explodierte mein Telefon, alle wollten etwas von mir. Aber kaum eine:r rief an, um zu schauen, ob es mir gut geht. Die Leute wollten sich eher mit mir verbünden, um zu zeigen, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Zwei weiße Freund:innen meldeten sich ungefähr gleichzeitig. Mit der einen Freundin hatte ich kaum noch Kontakt. Es gab eine Vorgeschichte mit Rassismus in unserer Beziehung und ich hatte deshalb weniger Zeit investiert, wir sahen uns kaum noch. Sie schickte mir eine Nachricht, in der in etwa stand: ‘Ich solidarisiere mich mit dir.’ Als ob sie nicht mitbekommen hätte, was zwischen uns geschehen war. Ich sagte ihr, dass ich nicht mehr mit ihr befreundet sein kann, wenn sie sich nicht mit ihrem Rassismus auseinandersetzt. Danach habe ich nie wieder von ihr gehört.
ze.tt: Und die andere Freundin?
Nova Reid: Weil ich gerade so eine schwierige Auseinandersetzung hatte, sagte ich dieser Freundin, dass ich nicht die Kraft hätte, mit ihr zu sprechen. Sie sagte mir, dass das schon okay sei und schickte mir später eine Karte, auf der stand: ‘Ich weiß, was in der Welt vor sich geht und wollte dir nur sagen, dass ich an dich denke. Wenn du bereit bist zu reden, bin ich für dich da.’ Das zeigte mir, dass sie die Situation verstand und bereit war, an sich zu arbeiten. Es gab zwischen uns zwar auch mal einen rassistischen Vorfall, aber für den hatte sie sich im selben Moment noch entschuldigt. Nichts Großes, aber sie erinnert sich daran.
ze.tt: In Ihrem Buch steht, dass Menschen, die beispielsweise ein Schwarzes und ein weißes Elternteil haben, von ihrer Nähe zum Weißsein profitieren. Wie ist das gemeint?
Nova Reid: Menschen, die hellere Haut haben, sind in der Gesellschaft immer noch mehr wert als Menschen, die dunklere Haut haben. Es gibt Studien, die zeigen, dass hellhäutige Schwarze besser bezahlt werden als Schwarze Menschen mit denselben Fähigkeiten, die dunklere Haut haben. Auch in der Werbung werden kaum dunkelhäutige Schwarze Frauen gezeigt, wenn es um Schönheit geht. Andere gesellschaftliche Vor- und Nachteile spielen auch eine Rolle. Als körperlich gesunde Schwarze Frau habe ich den Vorteil, körperlich gesund zu sein. Dieser Vorteil bedeutet aber nicht, dass ich als dunkelhäutige Schwarze Frau keinem Rassismus ausgesetzt bin. Im Vergleich zu einer hellhäutigeren Schwarzen Person, die eurozentrische Haare und Gesichtszüge hat, wird sie aufgrund dieser Nähe zum Weißsein mehr gesellschaftliche Vorteile haben als ich. Es geht bei dieser Feststellung nicht darum, das eigene Leid oder Unterdrückung zu schmälern. Es geht darum zu erkennen, wo und warum man selbst im Vorteil ist.
ze.tt: Sie sind zurzeit wahrscheinlich die bekannteste Antirassismus-Aktivistin und -Trainerin in Großbritannien. Alle wollen mit Ihnen sprechen. Sie sagen, dass es ermüdet, sogar retraumatisierend sein kann, Menschen Rassismus zu erklären. Warum machen Sie das trotzdem – und wie stehen Sie das durch?
Nova Reid: Ich bin sehr spirituell und glaube, dass ich von meinen Vorfahren dazu berufen wurde. Ich habe oft versucht, diesem Drang zu widerstehen, doch das Thema ist immer wieder zu mir zurückgekommen. Aber: Ich mache diese Arbeit nicht auf Kosten meines Wohlbefindens. Ich habe auf die harte Tour gelernt, mir Grenzen zu setzen. Ich sage nicht zu allem Ja, sondern zu den meisten Dingen eher Nein. Jede:r, die:der Antirassismusarbeit macht, oder irgendeine andere Art von Befreiungsarbeit, sollte sich mit Selbstfürsorge, Liebe, Auszeiten, Grenzen und Freude versorgen. Ich brauche viel davon, weil ich viel ausgleichen muss. Es gibt zwar Dinge, die man für das eigene Wohlbefinden machen kann, die kein Geld kosten. Aber für das meiste braucht man Geld. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Unternehmen und Organisationen, die nicht-weiße Menschen einladen, damit sie über Rassismus sprechen, dafür finanziell entschädigen.
ze.tt: Rishi Sunak ist seit wenigen Tagen der erste nicht-weiße Premierminister Großbritanniens. Glauben Sie, dass sich jetzt verändern wird, wie in Großbritannien mit Rassismus umgegangen wird?
Nova Reid: Nein. Wir alle können anti-Schwarz sein, wenn wir die Entscheidung dazu treffen. Egal, ob wir Schwarz oder of Color oder Teil einer anderen ethnischen Minderheit sind. Die Konservative Partei, der Rishi Sunak angehört, ist historisch gesehen und bis heute eine nach rechts orientierte Regierung. Sie hat Menschenrechtsverletzungen zu verantworten. Die Konservativen versuchen, eine Politik durchzusetzen, nach der Schwarze Menschen und Menschen of Color, die in Großbritannien Asyl suchen, nach Ruanda ausgeflogen werden. Repräsentation ist nicht genug, wenn dahinter keine Integrität steht. Jede:r kann sich zu einer Marionette von White Supremacy machen. Tatsächlich ist es sogar wirkungsvoller, wenn eine Person of Color rassistisch handelt. Dann kann das Argument immer lauten: ‘Wovon reden Sie? Eine Person of Color ist in einer der mächtigsten Positionen im Vereinigten Königreich.’ Das wird verwendet, um den Kampf gegen institutionellen Rassismus hierzulande zu diskreditieren. Sunak wird als eine Art Auszeichnung benutzt, obwohl er eigentlich nichts tut, was Rassismus bekämpft.