Das Haus auf dem Hügel – Weshalb die PDC im kleinen Ally Pally bleibt

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Die Rush Hour in London ist berüchtigt. Trotz enger Taktung werden die U-Bahnen am frühen Morgen und späten Nachmittag verlässlich zu einem Hautnah-Erlebnis, wie man es sonst nur aus den ersten Reihen ausverkaufter Popkonzerte kennt. Und auch die ikonischen roten Doppeldecker quälen sich in voller Auslastung und mit beschlagenen Scheiben durch die verstopften Straßen. Der dem Bürgermeister unterstellte TFL bietet seit Jahren vergünstigte Tickets an, um das Personenaufkommen zumindest ein wenig zu verteilen.

Die Buslinie W3 ist davon nicht betroffen. Unabhängig von Uhr- und Arbeitszeiten pendeln die Routemaster zuverlässig zwischen dem Finsbury Park und Northumberland Park durch den beschaulichen Norden der britischen Hauptstadt – mit Ausnahme der zweieinhalb Wochen am Jahresende. Dann fallen sie wieder ein, all die Zwerge, Bierkrüge, Schlümpfe, Spielzeugsoldaten, Bowling-Pins und Pferdejockeys. Pilgerer in fremden Gewändern auf dem Weg zu ihrer Kathedrale: der Weltmeisterschaft der Professional Darts Corporation (PDC).

Partystimmung im Alexandra Palace
Partystimmung im Alexandra Palace – Vergleichbares gibt es nicht
Quelle: pa/Action Plus/Shaun Brooks

Zweimal pro Tag machen sich knapp 3200 Fans zu dem auf einem 95 Meter hohen Hügel thronenden Alexandra Palace auf den Weg. Fahrten werden zu Buspartys. Hin – und wieder zurück vom wohl skurrilsten und buntesten Großereignisses des Sportkalenders. „Allein schon, dass es auf einem Berg liegt, macht es so besonders. Du fährst da mit dem Taxi hoch und siehst all die verkleideten Zuschauer. Das ist schon besonders“, sagt Gabriel Clemens, Deutschlands bester Dartsprofi.

Das Ally Pally ist wichtiger Bestandteil der Marke

Die Darts-WM ist der Alexandra Palace ist die Darts-WM. Kein anderer Sport ist so eng mit einem Turnier und einer Spielstätte verbunden. Olympische Spiele, Handball, Rugby, Leichtathletik oder Schwimmen wechseln die Austragungsorte ihrer globalen Titelkämpfe ebenso regelmäßig wie der Super Bowl im American Football oder das Champions-League-Finale im Fußball. Im Golf gibt es das US Masters und die British Open. Wimbledon ist ein magischer Ort für Tennisspieler, in Flushing Meadows oder Roland Garros würden sie allerdings ähnliches von sich behaupten. Die Formel 1 dreht ihre Runden genauso in Interlagos wie in Imola, und selbst die Tour de France verändert ihre Route von Jahr zu Jahr.

Kultstätte des Darts: das Ally Pally
Kultstätte des Darts: das Ally Pally
Quelle: Getty Images/Luke Walker

Während 2023 sogar der Ironman erstmals nicht mehr auf Hawaii stattfinden wird, gibt die Professional Darts Corporation (PDC) ein klares Bekenntnis zum Verbleib im Ally Pally ab. „Wir haben uns natürlich immer wieder mal angeschaut, ob ein Umzug Sinn machen würde“, sagt Matt Porter. Der Engländer ist seit 2008 CEO. „Aber die Diskussionen gibt es nicht mehr. Für uns war es ganz wichtig, diese Veranstaltung zu einer Marke zu machen. Das hatten wir an dem Punkt erreicht, seit die Weltmeisterschaft als Ally Pally bekannt ist. Aber sie ist auch bekannt für die Weihnachtszeit, für die lange Dauer des Turniers. Würden wir an einen anderen Ort wechseln, würden wir womöglich einiges von dem Wohlfühlfaktor verlieren.“

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Sein letzter Satz gilt für die Fans und den Veranstalter, der in dem 13.000 Quadratmeter großen Komplex viel Platz hat, um den Anforderungen der TV-Sender und Medien nachzukommen und seine Fan Zone mit Merchandise-Stand, Imbissbuden und Bars aufzubauen. Die Spieler dagegen sehen sich an jedem Spieltag mit den Eigenheiten des alten Gemäuers konfrontiert. Die allgegenwärtige Zugluft schafft es an besonders windigen Tagen sogar bis auf die Bühne, und der Weg aus dem zwei Stockwerke tiefer gelegenen Trainingsbereich kann für die Spieler durch kühl-nasse Lagerhallen und aufgeheizte Räumlichkeiten einem Marsch durch mehrere Klimazonen gleichen. An vielen Stellen tropft es von der Decke, in einigen Bereichen sammelt sich das Wasser auf Boden und Treppenstufen. Und wer einmal auf die Mitarbeitertoiletten geschaut hat, darf sich fragen, ob nicht vielleicht auch schon die Queen Consort, Alexandra von Dänemark, hier ihr Geschäft verrichtet hat. Nach der Monarchin wurde das 1873 errichtete Bauwerk benannt.

Michael van Gerwen bahnt sich seinen Weg durch die Fans
Michael van Gerwen bahnt sich seinen Weg durch die Fans
Quelle: dpa/Zac Goodwin

Es beherbergt Konferenzräume, Theater, einen Pub, Restaurants und sogar einen Eisring. Großveranstaltungen wie Konzerte finden in der 10.000 Zuschauer fassenden Great Hall, einem bis ins 20. Jahrhundert ummauerten, aber noch dachlosen Garten, des Palastes statt. Ausgerechnet die Darts-WM jedoch, das größte Aushängeschild, beschränkt sich auf die um zwei Drittel kleinere West Hall. Und das, obwohl ein Vielfaches an Tickets verkauft werden könnte. Erstmals in der WM-Geschichte war und ist das noch bis zum 3. Januar dauernde Turnier an allen Tagen ausverkauft. Zwei Wochen vor Beginn gab es keine einzige Karte mehr.

„Kein unnötiges Risiko, nur um nach ein bisschen mehr zu gieren“

Die PDC ist eine Firma, kein Verband. Sie muss Geld verdienen und hat den Kneipensport in den vergangenen Jahrzehnten einer umfassenden Professionalisierung unterzogen. Formate wie die Premier League finden mittlerweile vor bis zu 15.000 Zuschauern in Liverpool, Berlin oder Rotterdam statt. Die WM aber bleibt im Wohnzimmer. „Mir würde es gefallen, wenn man rotieren würde. Ein Jahr in Deutschland, im Jahr darauf in Schottland, dann England oder Irland“, sagt Gerwyn Price, die Nummer eins der Welt, die im Ally Pally traditionell und mehr noch als anderswo ausgebuht wird: „Für mich persönlich ist die Atmosphäre natürlich nicht so positiv im Alexandra Palace. Aber ich finde die Stimmung auf anderen Turnieren auch unabhängig davon viel besser. Die Dinge verändern sich. Erinnern Sie sich an die BDO-WM in Lakeside oder die Circus Tavern?“ Bis 2007 flogen dort vor etwas mehr als 1000 Zuschauern die Pfeile, dann zog die PDC um.

Die Fans werden ihre Pilgerstätte behalten
Die Fans werden ihre Pilgerstätte behalten
Quelle: dpa/Zac Goodwin

Und will dort noch lange bleiben. „Wir sind noch nicht so global wie die Fußball-WM. Auch was das Sponsoring und unsere Partner angeht. Und es ist für uns auch nicht realistisch zu sagen: ,Wir gehen jetzt mal nach Schweden.‘ Wie sollen wir da 80.000 Tickets verkaufen? Wir sollten kein unnötiges Risiko eingehen, nur um nach ein bisschen mehr zu gieren“, sagt Porter und liefert das wichtigste Argument,: „Um 13 Uhr an einem Mittwochmittag haben wir exakt dasselbe Bild wie um 21 Uhr an einem Freitagabend. In Wimbledon ist der Center Court an einem Mittwochmittag nur halb voll.“

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Was er meint: Eine Verlegung in eine größere Halle könnte zwar zu höheren Ticketeinnahmen führen, aber mittelfristig auf Kosten der Atmosphäre und des Charakters gehen. Vor allem an den ersten Turniertagen könnten nachmittags Lücken im Publikum entstehen. Zumal die ikonische Spielstätte dazu in jedem Fall verlassen werden müsste. Zwar wurde in der Great Hall schon Darts vor 10.000 Zuschauern gespielt. Doch die Finals der News of the World Championship, den letzten Runden eines nationalen Kneipenturniers, liegen 70 Jahre zurück. Damals gab es noch nicht die Menge an TV-Übertragungswagen und technischen Bedürfnissen wie heute. „Fanzone und TV-Produktion, die wir in der Great Hall haben, kannst du nirgenwo anders hinpacken“, sagt Porter: „Wenn wir also die Fanzone in die West Hall packen und die Kapazität in der Great Hall erhöhen, dann haben wir nicht mehr genug Platz für Bars und Toiletten.“

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Und so bleiben sie lieber in ihrer kleinen Halle oben auf dem Hügel. Dass sie baufällig und schlecht erreichbar ist, sie anderswo mehr Tickets absetzen könnten, nehmen Porter und die PDC gern in Kauf. „Das Wichtigste ist, dass wir die Intensität der Atmosphäre wahren“, sagt er. Clemens pflichtet ihm bei: „Ich finde es gut, dass sie im Alexandra Palace bleiben. Das ist Kult und mittlerweile weltbekannt.“

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Source: welt.de