Großer Aletschgletscher: Auf den Spuren des schmelzenden Eises

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Eisbrücke am Aletschgletscher

Auf den Spuren des schmelzenden Eises

Eisbrücke am Aletschgletscher Foto: Picture Alliance

Der Große Aletschgletscher in der Schweiz ist der längste und größte der Alpen. Die Schönheit dieses Naturphänomens ist so überwältigend, wie die sichtbaren Spuren des Klimawandels erschreckend sind.

3. Januar 2023

TEXT und weitere FOTOS: Jessica Jungbauer

„Was für ein Sommer, viel zu heiß . . .“ – „Und der letzte Winter erst! Wir hatten ja kaum Schnee.“ Kopfschüttelnd blicken der Bergbahnführer und eine Frau aus der Gondel in die Ferne, während wir über die Baumkronen hinaufgleiten, vom Tal auf die Riederalp im Schweizer Kanton Wallis. Ein Gespräch über das Wetter wie jeden Tag. Und doch ist dieses Jahr alles anders: der wärmste Sommer in Europa seit Aufzeichnungsbeginn. Die schlimmste Dürre seit 500 Jahren mit historischem Niedrigwasser in Rhein und Po. Waldbrände von der Sächsischen Schweiz bis nach Südfrankreich. Wir sind auf dem Weg zum Großen Aletschgletscher, dem längsten und größten Gletscher der Alpen. Auch er leidet unter der Klimakrise und schmilzt so schnell wie nie zuvor. Bis zu 20 Zentimeter – pro Tag.

Eine Geschichte aus der aktuellen Ausgabe des Magazins der F.A.Z. „Frankfurter Allgemeine Quarterly“

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Die Bergdörfer auf dem Sonnenplateau sind autofrei, nur einzelne Elektrofahrzeuge sind erlaubt. Pferde grasen auf der Weide, Gleitschirmflieger genießen den Ausblick ins Tal. Die Luft ist klar, die Sonne strahlt. Die Riederalp ist Teil der Aletsch Arena. Wir übernachten hier und fahren mit einer Bergbahn zum Aussichtspunkt Moosfluh, einem der vier Orte, von wo aus man das Aletschgebiet im UNESCO-Welterbe Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch erkunden kann.

Auf 2333 Metern angekommen, ist der Anblick des Großen Aletschgletschers unwirklich, wie eine Mondlandschaft, so karg und grau. Die mehrere Meter breiten Gletscherspalten sehen von hier oben aus wie feine Bleistiftstriche. Das Einzige, was man hört: die Wasserfälle. „Schmelzwasser“, sagt unser Guide David Kestens. „Seht ihr die grüne Kante?“ Er zeigt auf eine Linie, die sich an den Felsen deutlich absetzt. „So hoch war der Gletscher bei seinem letzten Höchststand im Jahr 1860.“ Etwa 150 Meter höher als heute. Seitdem ist der Große Aletsch von 26 Milliarden Tonnen auf aktuell 11 Milliarden Tonnen geschrumpft. Am mächtigsten ist er noch an seinem Mittelpunkt, dem Konkordiaplatz, mit 800 Meter Dicke. Ein Ort, der beeindruckend und bedrückend zugleich ist.

Der Große Aletschgletscher in den Alpen. Seit seinem Höchststand 1860 ist er um 150 Meter geschrumpft.
Der Große Aletschgletscher in den Alpen. Seit seinem Höchststand 1860 ist er um 150 Meter geschrumpft.

Nahaufnahme: wie eine Mondlandschaft aus Eis
Nahaufnahme: wie eine Mondlandschaft aus Eis

„Die Gletscher sind nicht mehr zu retten. Das ist Utopie . . .“ Kestens erklärt: „Für einen Meter Eis braucht es zehn Meter Schnee. Aber der Schnee muss über zehn Jahre hinweg zehn Meter dick sein. Nur so kann er sich verdichten und zu Eis werden. Wir haben aber auf 4000 Metern gar keinen Schnee mehr.“ Auf der ganzen Welt sind die Gletscher in Gefahr. Erst im August veröffentlichte die ETH Zürich neue Zahlen: Zwischen 1931 und 2016 verschwand in der Schweiz mehr als die Hälfte der Eismasse. „Unsere Glaziologen gehen davon aus, dass von hier bis zum Konkordiaplatz – das sind etwa 15 Kilometer – bis Ende des Jahrhunderts alles verschwunden sein wird, wenn man die Temperaturerhöhung nicht auf 2 Grad beschränkt.“ Und von dort, wo wir am Moosfluh stehen, könne man in 30 Jahren überhaupt nichts mehr sehen.

„Der Leim, der all die Steine hier zusammenhält, ist das Eis.“

DAVID KESTENS

Kestens zeigt auf das Bergpanorama um uns herum mit mehr als 20 von insgesamt 45 Walliser Viertausendern. „Auf den Gipfeln ist fast kein Schnee zu sehen. Der ist aber wichtig, um das Eis zu schützen.“ Warum sind Gletscher so wichtig? „Erstens, weil sie der einfachste Wasserspeicher sind. Zweitens macht der Gletscher durch seine Kälte auch die Umgebung kälter. Wenn er nicht mehr da ist, wird die Temperatur hier noch schneller steigen“, sagt Kestens. „Wenn man sich den Nordpol als Gletscher vorstellt, dann haben wir ein Riesenproblem. Aber ohne den Aletschgletscher werden wir wohl noch überleben.“

Probleme verursachen schmelzende Gletscher vor Ort durch Steinschlag und das Auftauen des Permafrostbodens. „Der Leim, der all die Steine hier zusammenhält, ist das Eis. Schmilzt das Eis, weil es zu warm wird, gibt es keinen Leim mehr. Dann ist ein Berg nur noch ein Haufen Steine, die hinunterfallen.“ Das geschieht gerade auch auf dem Matterhorn, dem bekanntesten Berg der Schweiz. Er ist während unserer Reise gesperrt, Bergführer machen wegen Steinschlaggefahr keine Touren mehr. Während anderswo die Stauseen leerlaufen, hat hier der Gebidem-Stausee sogar Überlauf. Es gibt so viel Schmelzwasser, dass man es nicht aufhalten kann. Während das Gletscherwasser reichlich ins Tal fließt, kämpfen die Berghütten mit Wassermangel aufgrund des ausbleibenden Regens und sinkenden Grundwasserspiegels.

Kurt Steiner dokumentiert seit Jahren das Schrumpfen der Eisschicht.
Kurt Steiner dokumentiert seit Jahren das Schrumpfen der Eisschicht.

Auf dem Rückweg wandern wir zur Riederalp. „Die Farbe vom Gras ist zu dieser Zeit eigentlich viel grüner und nicht ockerfarben“, erzählt Kestens. Wir treffen einen älteren Herrn mit einer Spiegelreflexkamera und einem Bildband in der Hand. Kurt Steiner erzählt uns, dass er bereits 52-mal am Großen Aletschgletscher war. Seit 2012 dokumentiert er mit seinen Fotos das Schmelzen des Gletschers. „Ich lege die Aufnahmeorte fest und setze mir auf dem GPS eine Fahne. So kann ich das gleiche Bild noch einmal machen.“ Warum er das tut? „In der Stadt nehmen wir die Veränderungen [durch die Klimakrise] nicht so wahr, aber hier sieht man wirklich, was passiert.“

Er zeigt auf den Großen Aletschgletscher und blättert in seinem Bildband. „Das Problem ist, dass der Abschmelzprozess immer schneller wird. Es ist nicht linear, sondern exponentiell.“ Nach seinem ersten Besuch vor 10 Jahren bemerkte er in kürzester Zeit weitere Auswirkungen der Klimakrise. In diesem Sommer etwa habe er den Vordersee noch nie so tief gesehen, und die Alpenrosen blühten drei Wochen zu früh. „Wir müssen etwas gegen den Klimawandel tun“, sagt er. „Wir müssen CO₂-frei werden. Daran führt kein Weg vorbei.“

„Das Problem ist, dass der Abschmelzprozess immer schneller wird.“

KURT STEINER

Beruflich hatte er ursprünglich etwas ganz anderes gemacht, aber der Umweltschutz lag ihm schon immer am Herzen. „Wenn die Trockenheit dieses Jahr weiter anhält, werden sie hier massive Probleme bekommen. Wenn die noch das Restwasser durch die Schneekanonen lassen …“, so Steiner weiter. „Im November wird die ganze Piste künstlich beschneit. Was machen die Leute in diesem Skigebiet, wenn das Wasser und der Schnee fehlen?“

Glückliche Kühe auf dem Weg zurück zur Riederalp
Glückliche Kühe auf dem Weg zurück zur Riederalp

In der Ferne sieht man das Matterhorn, den bekanntesten Berg der Schweiz.
In der Ferne sieht man das Matterhorn, den bekanntesten Berg der Schweiz.

Mittagessen im Bergrestaurant Riederfurka, das 13 Gault-Millau-Punkte hat und dem Slow-Food-Netzwerk angehört. In einem rustikalen Ambiente werden alpine Speisen wie Rösti mit Ei und Trüffel, cremiges Gersten-Risotto mit Mangold oder handgedrehte Tortelloni mit Schafsbergkäse serviert. Koch Pietro Catalano und sein Team arbeiten mit Produkten aus der Umgebung, fermentieren viel und stellen beispielsweise eigenes Fichtenöl her. Die Klimakrise spüren auch sie. „Die Himbeeren waren dieses Jahr vertrocknet und viel zu klein. Es gab so gut wie keine Heidelbeeren und auch keine Steinpilze“, sagt Catalano über diesen Sommer. „Das war extrem. Die Kühe gaben weniger Milch für Butter und Käse, sie hatten weniger frisches Gras zu fressen.“ Wie wirkt sich das auf die Küche aus? „Wenn wir zum Beispiel sehen, dass es in der Region wenig Steinpilze gibt, überlegen wir, welche Aromen aus dem Wald ähnlich sein könnten … Statt eines Steinpilz-Risottos kochen wir jetzt ein Carnaroli-Risotto mit Fichtenöl, dazu fermentiertes Haselnusspesto, verfeinert mit geräuchertem Frischkäse und ein wenig Arabica-Kaffeepulver und gerösteten Haselnüssen“, sagt er. „Der Geschmack ist sehr authentisch.“

Nachhaltiges Essen aus lokaler Produktion in der Berghütte Restaurant Riederfurka, hier: Rösti
Nachhaltiges Essen aus lokaler Produktion in der Berghütte Restaurant Riederfurka, hier: Rösti

Das Pro Natura Zentrum Aletsch ist das Umweltbildungszentrum der ältesten Naturschutzorganisation der Schweiz und liegt in der Villa Cassel, der einstigen Sommerresidenz von Sir Ernest Cassel, einem Finanzberater des englischen Königs. Schon Winston Churchill erholte sich hier. 2019 wurde die viktorianische Villa so renoviert, dass sie mit einer Luft-Wasser-Wärmepumpe und einer Photovoltaikanlage auf zwei Gebäuden im Tal klimaneutral betrieben werden kann. Martina Oettli vom Zentrum empfängt uns mit einem Spaziergang ums Haus. „Wir befinden uns hier in unmittelbarer Nähe zum Aletschwald, der seit 1933 unter Naturschutz steht“, sagt Oettli. „Das Spezielle daran ist, dass das Schutzgebiet jedes Jahr ein bisschen wächst, weil sich der Gletscher zurückzieht.“

Oettli hält einen ausgestopften Vogel in der Hand. „Das ist ein Tannenhäher, der charakteristische Vogel im Aletschwald.“ Sie zeigt auf einen Baum. „Sehen Sie die Zapfen auf dem Boden? Da steht eine Arve. Sie wächst an außergewöhnlichen Standorten wie hier auf Steinen. Sie ist extrem widerstandsfähig und wird sehr alt.“ Manche seien hier um die 700 Jahre alt. Und auch hier zeigt sich die Klimakrise. „Tannenhäher und Arve bilden eine Symbiose“, erklärt Oettli. „Der Tannenhäher sammelt Nüsse und versteckt sie als Wintervorrat. Er findet bis zu 80 Prozent seiner Verstecke wieder; aus den restlichen können neue Arven wachsen.“ Die Folge der Erwärmung: „Pflanzen und Tiere müssen höher hinauf, damit es ihnen nicht zu warm wird. Je weiter oben, desto weniger Platz gibt es für alle.“

In der alten viktorianischen Villa Cassel liegt das Pro Natura Zentrum Aletsch.
In der alten viktorianischen Villa Cassel liegt das Pro Natura Zentrum Aletsch.

In der Villa Cassel gibt es eine eindrückliche Multimedia-Ausstellung, die die Entwicklung des Gletschers in einer Modellinstallation im Laufe der Zeit anschaulich macht. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die Situation umgekehrt: Die Menschen hatten Angst vor dem Großen Aletschgletscher, weil er sich während der Kleinen Eiszeit zu stark ausdehnte. Mit Bittprozessionen versuchten sie den Gletscher aufzuhalten. Oettli ist im Pro Natura Zentrum Aletsch zuständig für die Umweltbildung. Das Zentrum bietet eigene Gletscherexkursionen an. Wie reagieren die Kinder und Jugendlichen darauf? „Sie sind begeistert, wenn sie einmal auf dem Gletscher gestanden sind.“ Manche schreiben ihre Eindrücke auf, wie ein kleiner französischer Junge, der Oettli besonders im Gedächtnis geblieben ist. Auf seinem Zettel stand „Je suis triste“ – „ich bin traurig“. „Aber das ist es ja, was wir versuchen: den Kindern und Jugendlichen die Ohnmacht zu nehmen, dass man nichts mehr dagegen tun kann.“

Blick ins Tal: Pflanzen und Tiere müssen sich an höhere Temperaturen anpassen.
Blick ins Tal: Pflanzen und Tiere müssen sich an höhere Temperaturen anpassen.

Am nächsten Tag treffen wir Dominik Nellen. Der Bergführer hat einmal eine spektakuläre Entdeckung gemacht: Er entdeckte ein Flugzeug, das 1968 abgestürzt war – und nach mehr als 50 Jahren aus dem ewigen Eis des Großen Aletschgletschers auftauchte. „Zuerst sah es von Weitem aus wie zwei Rucksäcke. Aber dann sahen wir, dass es ein Flugzeug ist“, erzählt Nellen. Nellen bietet diese 2-Tages-Tour oft an, mit Start vom Jungfraujoch. „Dort oben ist der Gletscher noch mit Schnee bedeckt. Eine wunderschöne, imposante Gletscherwelt. Mit einer Übernachtung in der Konkordiahütte und von da zum Märjelensee.“

Doch dieser heiße Sommer sorgte dafür, dass er eine andere Route als sonst nehmen musste. „Auf dem Jungfraujoch war es relativ warm, auf 3500 Metern hatten wir 4 Grad. Das ist sehr heiß, wenn man bedenkt, dass man so hoch ist. Weil wir im letzten Winter sehr wenig Schnee hatten und es im Sommer sehr warm war, sind viele Gletscherspalten bereits nicht mehr mit Schnee bedeckt, und man muss sie umgehen“, erzählt er. „Ich bin also mit meiner Gruppe weiter westlich gegangen als sonst, und diese Route führte uns zum Wrack des abgestürzten Flugzeugs.“

Bergführer David Kestens bemerkt seit Jahren die Veränderungen durch den Klimawandel.
Bergführer David Kestens bemerkt seit Jahren die Veränderungen durch den Klimawandel.

Nellen ist auf der Riederalp geboren, auch sein Vater ist seit über 40 Jahren Bergführer. Sie betreiben die Bergsteigerschule Riederalp. Der Große Aletschgletscher ist sein „Heimgletscher“. „Die Gletscherschmelze berührt mich sehr“, sagt Nellen. „Im unteren Teil des Gletschers führen wir seit über 20 Jahren Ablationsmessungen durch: Wir bohren ein Loch, setzen Ablationsstangen rein, verbinden sie mit Ketten und machen sie mit Widerhaken fest, damit das Schmelzwasser sie nicht hochtreiben kann. Wenn man sieht, wie viel davon im Sommer jede Woche schmilzt, schmerzt das schon.“

Nellen hat den Großen Aletschgletscher bereits als Kind erlebt. Nie hätte er gedacht, dass seine Heimat eines Tages die weltweiten Schlagzeilen machen würde – aber wenn der Flugzeugfund eines den Menschen zeigt, dann, dass die Klimakrise bereits da ist. „Um jetzt die Tagestouren im untersten Teil des Gletschers überhaupt noch anbieten zu können, müssen wir Fixseile montieren. Durch das Abschmelzen des Gletschers werden immer mehr Felsen frei. Da geht man jetzt einfach hinunter.“ Er schätzt, dass es in den letzten Jahren etwa fünf bis sieben Höhenmeter und 80 Meter in der Länge waren. „Wenn man dann weiß, dass man eigentlich schon längst auf dem Eis stand … Jeder Schritt, den man dort macht, tut weh.“

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Quelle: Frankfurter Allgemeine Quarterly

Veröffentlicht: 02.01.2023 14:22 Uhr

Source: faz.net