Übergriffe in der Silvesternacht: Diskussion über “gescheiterte Integration”

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Stand: 03.01.2023 17:37 Uhr

Brennende Autos und verletzte Polizisten: Beim nächsten Mal soll die Silvesternacht anders laufen, fordern Gewerkschafter und Politiker. Doch wie das zu erreichen ist – und welche Rolle Integrationsbemühungen spielen, ist umstritten.

Nach den Angriffen auf Polizei und Rettungskräfte in der Silvesternacht in Berlin nimmt die politische Debatte über die Ursache für die Gewalt weiter Fahrt auf. Dabei geht es auch um eine vermeintlich gescheiterte Integrationspolitik. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte einen Runden Tisch mit Politikern und Praktikern sowie neue Ansätze in der Integrationspolitik.

“Wir brauchen diese Debatte sofort, und wir brauchen Ergebnisse, klare Konzepte und einen Plan, wer was umzusetzen hat”, sagte der GdP-Bundesvorsitzende, Jochen Kopelke. Eine Einsatznacht mit schockierenden Vorfällen wie in der Nacht auf Sonntag dürfe sich zum nächsten Jahreswechsel nicht wiederholen, betonte er. “Somit ist der Zeitrahmen gesetzt”.

159 Festnahmen nach Krawallen

In der Nacht zum Neujahrstag waren in mehreren Städten Polizisten und Feuerwehrleute im Einsatz angegriffen worden, unter anderem mit Böllern und Raketen. 41 Polizisten wurden im Einsatz verletzt und waren zeitweise dienstunfähig. Ein Polizist, der schwere Brandverletzungen erlitten hatte, wurde nach Angaben eines Behördensprechers inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen.

Nach den Krawallen hatte die Polizei 159 Menschen festgenommen. Mindestens 103 wurden nach Feststellung ihrer Identität wieder freigelassen. Unter den Freigelassenen sind 98 Männer und fünf Frauen. Ob die übrigen Verdächtigen ebenfalls wieder frei sind, konnte eine Polizeisprecherin zunächst nicht sagen.

Spahn macht “gescheiterte Integration” verantwortlich

Gesicherte Angaben von Behördenseite über die Täter beziehungsweise bestimmte Tätergruppen lagen heute noch nicht vor.

Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Spahn machte dennoch eine gescheiterte Integrationspolitik mitverantwortlich für die Eskalation. “Da geht es eher um ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat statt um Feuerwerk”, sagte Spahn dem Portal “t-online”.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft forderte eine Untersuchung zur Herkunft der Täter. Viele der Angreifer stammten aus dem “Migrantenmilieu”, sagte Gewerkschaftschef Rainer Wendt gegenüber “Focus Online”. Bei vielen Einsatzkräften herrsche nach der Silvesternacht der Eindruck vor, dass “Gruppen junger Männer mit Migrationshintergrund bei diesen Ausschreitungen weit überrepräsentiert” seien.

Mansour: “Pure Lust an Gewalt”

Die Gewalt habe verschiedene Ursachen, so der Sozialpsychologe Ulrich Wagner. Bei Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund sei eine mögliche Erklärung, dass Integration und Partizipation noch nicht gut gelungen seien, erklärte Wagner dem rbb-Inforadio. Dies liege dann auch an der Qualität der Angebote zur gesellschaftlichen Teilhabe.

Oft spiele Alkohol eine Rolle sowie eine Stimmung zwischen Heiterkeit und Aggression, sagte der Sozialpsychologe der Universität Marburg. Diese wende sich dann als eine Mischung aus “Attacke und Scherz” gegen die Rettungskräfte. Zugleich verwies Wagner auf einen insgesamt rückläufigen Trend beim Thema Gewalt. Spezifische Gewaltformen – wie etwa die auf Einsatzkräfte beim jüngsten Jahreswechsel – nähmen aber zu.

Es gehe bei dem Thema auch um Jugendkultur, bekräftigte Ahmad Mansour, Psychologe und Autor, im Interview mit tagesschau24. Bei den Verdächtigen handele es sich um Menschen, die ihre Männlichkeit so verstehen und so ausleben wollten, dass sie bereit seien, auch Gewalt anzuwenden. “Es war pure Lust an Gewalt”, sagte Mansour. “Es hat aber auch mit patriarchalischen Strukturen zu tun, die dazu führen, dass diese Menschen unseren Rechtsstaat, unsere Polizei, unsere Rettungskräfte als etwas Schwaches wahrnehmen, das man attackieren darf.”

GdP: Integrationspolitik neu angehen

In vielen Fällen hätten “gruppendynamische Prozesse, Alkoholmissbrauch, Sozialisationsdefizite und die Verfügbarkeit pyrotechnischer Gegenstände zu dieser bestürzenden Eskalation” geführt, sagte der GdP-Vorsitzende Kopelke. Gleichzeitig warnte er davor, “Menschen pauschal abzustempeln und als verloren zu erklären”.

Menschen in den betroffenen Stadtteilen müssten die Übergriffe verurteilen und Wege finden, solche Taten in Zukunft zu verhindern. Die Polizei könne hier beraten, lösen könne sie die Probleme jedoch allein nicht. Der GdP-Chef forderte: “Die Bundesregierung muss ihrem Koalitionsvertrag gerecht werden und Integrationspolitik auf Bundesebene neu angehen.”

Balci: Häusliche Gewalt als Alltag

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: “Wir müssen die Täter anhand ihrer Taten beurteilen, nicht anhand ihrer vermuteten Herkunft, wie dies nun einige tun.”

Die Integrationsbeauftragte des Berliner Bezirks Neukölln, Güner Balci, sagte im Deutschlandfunk, in Großstadtvierteln “mit schwierigen sozialen Problemlagen” sei zu beobachten, “dass wir Kinder und Jugendliche haben, die mit häuslicher Gewalt als Alltag aufwachsen”. Diese Jugendlichen seien zwar auch in diesen Vierteln nur eine Minderheit, “allerdings reicht ein Einziger, um ein ganzes Haus zu terrorisieren”.

Source: tagesschau.de