Cyril Schäublins Film „Unruh

Die Schweizer Gemeinde Saint-Imier im Jura trägt in deutscher Sprache einen ungewöhnlichen Namen: Sankt Immer. Dass jemand das Ewige heiligsprechen könnte, wäre ein Affront gegenüber einem Dogma der Moderne: dass die Dinge sich entwickeln und dass sie sogar revolutionären Veränderungen unterliegen können. In Cyril Schäublins Film „Unruh“ wird das Anbrechen einer überraschenden Zukunft im Innersten jenes Automaten verortet, der die Zeit in ein Kontinuum aus distinkten Einheiten verwandelt hat: der Chronograph. Saint-Imier war im neunzehnten Jahrhundert ein Zentrum der Schweizer Uhrenindustrie. Industrie bedeutete in diesem Fall: Arbeitsteiligkeit, Akkord, Arbeit mit der Lupe. Eine Fabrik mit dem sprechenden Namen Centralines stellt Uhren für einen Weltmarkt her, auf dem auch die Krisen das entsprechende Format haben: Auf eine „crise mondiale“ der Absätze reagieren die Besitzer der Fabrik mit Effizienzmaßnahmen. Die Wege zwischen den Abteilungen werden vermessen, ebenso die Dauer von Arbeitsvorgängen.
Die Arbeiter antworten mit Strategien der Verlangsamung. Sie sind teilweise in einer anarchistischen Föderation assoziiert, inspiriert von der Pariser Kommune, und halten Kontakt zu internationalen Bewegungen. Bei einer Tombola wird für einen Eisenbahnerstreik in Baltimore gesammelt. Das Produkt, auf das sie ihre Lohnarbeitskraft verwenden – bis heute genießt die Schweizer Uhrenfertigung das Prestige höchster Präzision und Individualität –, ist Instrument auch jener Herrschaftstechniken, denen die Bourgeoisie ihre Privilegien verdankt.
Die Bewegung der Herrschaftsfreiheit braucht keine Helden
„Unruh“ ist ein Revolutionsfilm, der sein Interesse dadurch deklariert, dass er einen historischen Moment aufsucht, in dem konkurrierende Regimes (Vaterlandsdemokratie und Internationalismus) und konkurrierende Agenden (bürgerliche Ordnung und deren proletarische Subversion) so aufeinandertreffen, dass man von einem Schlüsselmoment für die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinen gesellschaftsverändernden, totalitären Projekten sprechen kann. Schäublin legt eine Spur, indem er ein Zitat von Pjotr Kropotkin voranstellt, der im Jura die Inspiration für seine Bekehrung zum Anarchismus fand. Der Film beginnt ironisch mit Russisch sprechenden Frauen in einer Umgebung, die nach Nobelurlaub aussieht. Sie plaudern über Pjotr (der ihrer privilegierten Klasse angehört) und tauschen dabei Gemeinplätze über den Anarchismus aus: „wie Kommunismus, aber ohne Regierung“.
Das ist der systematische Punkt, auf den es in „Unruh“ ankommt. Einerseits weist die Bemerkung auf die letzten Jahre Kropotkins, der die Revolution der Bolschewiki noch erlebte und kritisierte. Andererseits sucht Schäublin inmitten des historiographisch Verbürgten über den Schweizer Jura um 1870 nach einem Beispiel für Neuansätze anarchistischer Theorie und ästhetischer Praxis im 21. Jahrhundert. Kropotkin dient dabei als Figur, die auch das historische Referieren dezentriert. Die Bewegung der Herrschaftsfreiheit braucht keine Helden. Und so steht „Unruh“ zwar das Insert aus den Memoiren voran, die Figur selbst aber wird im Film als Protagonist mehrfach dementiert, einerseits durch die Formulierung „Je ne suis pas protagoniste“, andererseits durch eine Kadrage und Dramaturgie, die dem Darsteller Alexei Evstratov marginale Orte zuweisen – am Bildrand oder im Hintergrund. Kropotkin kommt nicht als Revolutionär in den Jura, sondern als Kartograph. Dafür bringt er ein umstürzlerisches Interesse mit, er möchte eine Karte der Gegend erstellen, in der alte Namen berücksichtigt werden. Man könnte von einer Umdeutung von Erinnerungsorten sprechen, die im neunzehnten Jahrhundert zunehmend von offiziellen Namen überschrieben werden. Wo kollektives Wissen war, übernimmt die administrative Vernunft.
Wenn Politik und Kunst zusammenfallen
Der Jura ist natürlich selbst ein solcher linker Erinnerungsort, und Schäublins Film, sein zweiter nach „Dene wos guet geit“, ist ein Versuch, dem Kommemorieren eine moderne Form zu geben. Dies wird umso deutlicher, als es ein konkurrierendes erinnerungspolitisches Motiv gibt, das „Unruh“ untergründige Komik verleiht. Die örtliche Bourgeoisie mit ihrem höchsten Vertreter, dem Uhrenfabrikanten Roulet, möchte ein historisches Ereignis nachspielen. Sie benötigt dazu allerdings Leute aus der Belegschaft, und außerdem muss jemand die unterlegenen Österreicher verkörpern. Die Arbeiter haben auch noch ihre Versammlung, sie erinnern im Grunde an eine Schlacht, an die drei Monate der Pariser Kommune. Wie in einem Akt trotziger Trauerarbeit wird „L’ouvrier n’ha pas la patrie“ von Charles Keller 1876 gesungen, endend allerdings in einer Proklamation: Die „république du genre humain“ wird ausgerufen, auch im Jura, wo sich bei einer Wahl für den Rat in Berlin 267 Wahlberechtigte als Anarchisten deklarierten, indem sie statt eines Kandidaten (nur Roulet stand zur Auswahl) eine Idee wählten – die Commune.
Das ursprünglich utopische Motiv der Schweizer Unabhängigkeit wurde im Lauf der Jahrhunderte radikal territorialisiert und trifft nun auf eine Arbeiterschaft, die sich an Präzedenzfällen in der Ferne orientiert. Schäublin durchwirkt seinen Film förmlich mit Aspekten der Metrisierung von Inhalten – selbst der Telegraph wird als zeitbasiertes Medium erkennbar, weil jeder übermittelten Information eine distinkte Einheit in der „Umschrift“ zugeordnet wird. Saint-Imier erscheint als eine durchrationalisierte Umgebung, in der es allerdings auffällige Differenzen gibt, denn im Dorf allein gibt es vier Zeitmessungen (die Fabrikzeit ist gegenüber der munizipalen Zeit um acht Minuten voraus, die Gemeindezeit, die lokale Zeit und die kirchliche Zeit sind im Verzug). Für den Zugverkehr aus Lausanne oder Basel müssen Synchronisierungen geschaffen werden, die der Telegraph gewährleistet.
Das Motiv der Disruption ist ein technisches. Die Uhr selbst, dieser diffizile Apparat aus Kräften, bedarf für ihr Funktionieren eines Faktors, der die Ordnung transzendiert. Das ist eben jene Unruhe, mit deren Herstellung vor allem Frauen beschäftigt sind, namentlich auch Josephine Gräbli, eine „regleuse“ (so ihre Berufsbezeichnung, bevor ihr wegen ihrer politischen Betätigung gekündigt wird), die Kropotkin schließlich in einem latent romantischen Dialog erklärt: „Ich produziere die Unruhe.“ Das gleichmäßige Bewegungsprinzip der Uhr beruht im Inneren auf einem ständigen Umspringen, auf einem echappierenden Impuls, den das Uhrwerk balancieren oder einfangen muss, um in der Zeit zu bleiben.
Dass ein Mann und eine Frau miteinander eine Liebesgeschichte schreiben können, fällt in „Unruh“ mit einem revolutionären oder zumindest subversiven Botengang zusammen und verweist auf eine Einheit von Theorie und Praxis oder auf eine realisierte Form von Glück in einer entfremdeten Welt, die sich auch als eine Form des Echappierens lesen lässt. Das Bild einer aufgeknüpften, von einem Ast baumelnden Uhr ist von anspielungsreicher Brillanz. Liebe und Anarchie fallen hier vielleicht für einen Moment zusammen, wie auch Politik und Kunst, in einem herausragenden Film.
Source: faz.net