Brief aus Istanbul: Erdoğan will uns mit unserem eigenen Geld kaufen

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In den letzten Monaten seiner über zwanzigjährigen Regierungszeit steht Erdoğan vor einer bedeutenden Wegscheide. Er will weitere fünf Jahre in seinem Tausend-Zimmer-Palast bleiben, allerdings dürfte es ihm nicht leichtfallen, aus der Mangel, in die er das Land genommen hat, einen Sieg hervorzupressen. Wenn es ihm nicht gelingt, auf den beiden schwierigsten Feldern, der Wirtschaft und der Demokratie, das Ruder herumzureißen, wird er spätestens im Mai seine Sachen packen müssen.

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Wie jeder Politiker, der eine Wahl gewinnen will, weiß er, dass er seine Herrschaft nur verlängern kann, wenn er Zugeständnisse in der Wirtschaft und bei der Demokratie macht. Doch er hat wenig Handlungsspielraum. Zieht er seine eiserne Faust vom Land ab, rutscht ihm der Boden unter den Füßen weg. In einer freien, demokratischen Atmosphäre würde sich die Opposition festigen, der Prozess seines Machtverlustes wäre beschleunigt. Ebenso wenig kann er die Wirtschaft aus der Flaute holen. Zum einen sind es nur noch maximal fünf Monate bis zu den Wahlen, in dieser Zeitspanne ist es unmöglich, die Armut breiter Massen abzuschaffen und für Wohlstand zu sorgen. Zweitens dürfte das von ihm errichtete Wirtschaftssystem eine Revision kaum überstehen, weil es, insbesondere hinsichtlich der Finanzierung seiner Politik, auf einem Getriebe aus Korruption basiert.

Bülent Mumay

Bülent Mumay : Bild: privat

In meinem letzten Brief hatte ich gesagt, Erdoğan befleißige sich der Taktik, wenn er schon nicht gewinnen könne, müssten auch alle anderen verlieren. Die ersten Hinweise darauf sehen wir: Die Repressalien gegen die Opposition nehmen zu. Da Erdoğan keine demokratische Öffnung wagen kann, sorgt er dafür, dass seine Widersacher verlieren. Ekrem İmamoğlu, der als aussichtsreicher Herausforderer galt, hat er mit Politikverbot belegen lassen. Letzte Woche erfolgte ein weiterer Schritt, um die Kurden abzustrafen. Die vom Palast gelenkte Justiz fror das Konto der von einem Verbotsverfahren bedrohten HDP für Zahlungen vom Fiskus (rund 26,8 Millionen Euro), die nach dem Stimmenanteil bei den vorangegangenen Wahlen berechnet werden, ein. Falls sie bis zu den Wahlen nicht ohnehin verboten wird, steht der Kurdenpartei also kein Geld für den Wahlkampf zur Verfügung. Damit wird dem kurdischen Stimmenpotential für den Kandidaten des oppositionellen Blocks geschadet.

Repression gegen Presse und Zivilgesellschaft

Und es geschah noch etwas, das bedrohlich aussieht. Kurz nachdem der junge Politiker Sinan Ateş Erdoğans rechtsextremen Koalitionspartner MHP kritisiert hatte, kam er bei einem Anschlag ums Leben. Als Vorsitzender der Idealistenvereine, der Jugendorganisation der MHP, war Ateş des Amtes enthoben worden, nachdem er Kritik an der Regierung geübt hatte. Danach hatte Ateş, der erheblichen Einfluss auf die nationalistisch gesinnte Jugend hatte, Verbindungen zu einer anderen nationalistischen Partei aus dem Bündnis der Opposition geknüpft. Am Tag nachdem er ein Foto geteilt hatte, das ihn mit Kadern dieser Partei zeigt, wurde er in Ankara von professionellen Killern ermordet. Besonders auffällig war, dass MHP-Chef Devlet Bahçeli stumm blieb, die Tat weder verurteilte noch eine Kondolenzbotschaft veröffentlichte. Der Grund für sein Schweigen wurde bald deutlich. Die Killer waren unter Angehörigen einer Drogenbande in Istanbul ausgewählt und von zwei Polizisten einer Spezialeinheit nach Ankara gebracht worden. Interessanter noch: Es kam heraus, dass der Istanbuler Provinzvorsitzende der MHP dem Kopf der Bande, die den Anschlag organisiert hatte, Geld geschickt hatte. Und ein Helfer des Attentats wurde im Haus eines MHP-Abgeordneten festgenommen.

Die Idealistenvereine sind die Organisation der Grauen Wölfe, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Seit den 1970er Jahren ist der Verband in der Türkei für blutige Aktionen verantwortlich, heute wird er von Erdoğans Verbündetem Bahçeli kontrolliert. In den letzten Jahren attackierten Personen aus dem Umfeld dieser Organisation Journalisten, Autoren und Politiker, die die Regierung, speziell die MHP, kritisiert hatten. Die Täter wurden entweder nicht gefasst oder kamen nach milden Strafen wieder frei. Dass ein aus demselben Motiv heraus organisierter Anschlag fünf Monate vor den Wahlen jetzt mit Mord endete, darf als Warnschuss für alle verstanden werden, die Erdogan oder seine Verbündeten kritisieren. Oppositionsparteien werden mit Gerichtsurteilen zum Verstummen gebracht und jede oppositionelle Regung innerhalb der Macht mit Anschlägen dieser Art.

Auch die Repression gegen Presse und Zivilgesellschaft nimmt nicht ab. Jüngst wurde die lebenslängliche Haft für den Menschenrechtler Osman Kavala und seine Mitangeklagten wegen des Vorwurfs, sie hätten die Gezi-Proteste organisiert, bestätigt. Der in Deutschland im Exil lebende Journalist Can Dündar wurde auf die Liste der meistgesuchten Terroristen gesetzt. Vor Jahren war er inhaftiert worden, weil er berichtet hatte, dass Erdogan Waffen lieferte, um Unruhen in Syrien zu schüren. Die Türkei setzt sich mit Syrien gerade wieder an einen Tisch, aber Can Dündar erklärt sie offiziell zum Terroristen! Für seine Ergreifung sind umgerechnet 25 .000 Euro ausgesetzt.

Laut Verfassung ein demokratisches, laizistisches Land

In der Türkei kam unterdessen heraus, dass der von Erdoğan eingesetzte Verkehrsminister Ausschreibungen von rund 105 Millionen Euro für den Straßenbau an seinen Onkel vergeben hat. Anschließend wurde der Zugang zu 53 Websites gesperrt, weil sie darüber berichtet hatten. Im vergangenen Jahr mussten sich 263 Journalisten in 174 Prozessen vor Gericht verantworten, vierzig wurden zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt. Wir leben in einem der weltweit größten Gefängnisse für Journalisten, laut Erdoğan aber befinden wir uns in einem Paradies der Freiheit. Bei einer Feier, auf der Erdoğan Auszeichnungen an ihn unterstützende Journalisten verlieh, erklärte er prätentiös: „Jeder, der die Geschichte der Presse in unserem Land kennt, wird zugeben, dass unsere Medien heute über eine weit unabhängigere Struktur verfügen. Jeder ist frei, zu schreiben, zu sagen und zum Ausdruck zu bringen, was er will.“

Jeder kann sagen und schreiben, „was er will“, solange er Erdoğan unterstützt. Genau wie der von unseren Steuergeldern finanzierte Fernsehsender der staatlichen Religionsbehörde Diyanet. In Diyanet TV bekundete ein Religionsbeamter: „Ohne Sohn oder Ehemann an ihrer Seite ist es für Frauen unangemessen, weiter als 90 Kilometer zu reisen.“ Im selben Sender hieß es auch, in engen Hosen sollten Frauen sich nicht öffentlich zeigen. So geschehen nicht etwa in Iran unter dem Mullahregime, sondern in der Türkei, die laut Verfassung ein demokratisches, laizistisches Land ist.

Gewohnt, alles mit Geld zu kaufen

Eingangs hatte ich gesagt, Erdoğan sei es nicht möglich, sein repressives Regime zu revidieren und mit demokratischen Öffnungen Stimmen zu holen. Aus diesem Grund setzt er die Gesellschaft weiter unter Druck. Da es ihm nicht gelingt, die Wirtschaft auf Trab zu bringen, versucht er mit Maßnahmen, die als Wahlbestechung gelten dürfen, Stimmen zu gewinnen. Im Vertrauen auf ökonomische „Gesten“, zu denen er Freunde wie Qatar und Russland bewegen konnte, hat er den Beutel aufgeschnürt. In den vergangenen Monaten wurden Zinsen für Studentenkredite gestrichen, Wohnungsbauprogramme für die Unterschicht verkündet und der Mindestlohn erhöht. Zuletzt reformierte Erdoğan das Rentensystem, wodurch über zwei Millionen Arbeitnehmer früher in Rente gehen können. Zuvor hatte er Forderungen nach einem früheren Renteneintrittsalter strikt abgelehnt: „Damit sind die skandinavischen Länder untergegangen. Ohne mich, auch wenn wir die Wahlen verlieren.“ Jetzt aber, wo seine Position gefährdet ist, sah er sich gezwungen, diese Reform zu verkünden, die den Staatshaushalt mit 2,25 Milliarden Euro belastet. Mit den Worten eines ehemaligen Beamten: „Um nicht selbst in Rente zu gehen, schickt er 2,5 Millionen Menschen in Rente.“

Damit nicht genug. In Istanbul senkte Erdoğan den Gaspreis um zwölf Prozent. Supermarktketten setzte er unter Druck und ließ sich ihr Wort darauf geben, bis zu den Wahlen keine Preise mehr zu erhöhen. Manche von Ihnen werden sich erinnern, vor ein paar Jahren hatte ich von dem „Zufall“ geschrieben, der sich vor jeder Wahl in der Türkei ereignet: Stehen Wahlen an, heißt es, irgendwo im Land seien Erdöl- oder Gasvorkommen entdeckt worden. Die Tradition hat sich nicht geändert, kürzlich verkündete Erdoğan, im Schwarzen Meer sei Erdgas im Wert von einer Trillion Dollar gefunden worden.

Werden die frohen Botschaften, die Wahlbestechungen, Erdoğans Leben im Palast verlängern? Man kann nie wissen, welches Kaninchen er aus dem Hut zaubert. Noch sorgen die populistischen Maßnahmen in der Wirtschaft nicht für die Unterstützung, die ihm den Sieg brächte. Der jüngsten Studie des renommierten Meinungsforschungsinstituts Metropoll zufolge verliert er gegen jeden der vier möglichen Herausforderer in der zweiten Runde. Erdoğan ist es gewohnt, alles mit Geld zu kaufen. Im Augenblick gelingt es ihm allerdings nicht, uns mit unseren eigenen Steuergeldern zu kaufen.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

Source: faz.net