Die wahren Kosten des Arbeitermangels

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Dass der Arbeitskräftemangel das Land jeden Tag große Summen an Geld kostet, ist schon länger bekannt. Bislang stand die gigantische Summe von 86 Milliarden Euro an verlorener Wirtschaftsleistung im Jahr 2022 im Raum. Berechnet hatte das die Unternehmensberatung Boston Consulting Group.

Doch der am Donnerstag veröffentlichte Fachkräftereport der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) toppt diese Zahl sogar noch deutlich: Weil auch dieses Jahr wohl knapp zwei Millionen Arbeitsplätze vakant bleiben werden, geht Deutschland demnach eine Wertschöpfung von fast 100 Milliarden Euro verloren. Dieser Rechnung liegt die durchschnittliche Bruttowertschöfpung im Jahr 2021 von etwa 79.000 Euro pro Erwerbstätigem zugrunde und das Szenario von zwei Dritteln der zwei Millionen unbesetzten Arbeitsplätzen

Und der Bericht hat weitere Warnungen parat. So geben mehr als die Hälfte von fast 22.000 befragten Unternehmen an, nicht alle offenen Stellen besetzen zu können. Das entspreche einem Rekordwert, die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe sei in Gefahr.

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„Die derzeit noch stabile Arbeitsmarktentwicklung und die vielen offenen Stellen dürfen nicht zu dem Fehlschluss verleiten, alles laufe relativ rund und den meisten Unternehmen gehe es gut“, sagt Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der DIHK. „Unter der Oberfläche braut sich seit geraumer Zeit eine gefährliche Mischung zusammen. Der Mangel wird zur Wachstumsbremse und führt zu Wohlstandsverlust.“

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So haben sich Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung in den Unternehmen im Vorjahresvergleich nochmals verschärft. Das ist vor allem deshalb überraschend, weil viele Betriebe angesichts der Krise ein wirtschaftlich schwieriges Jahr erwarten und ihre Personalplanung ohnehin schon heruntergeschraubt haben.

Schon im Herbst erkannten das Ifo-Institut und das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) eine „zunehmende Zurückhaltung“ bei Neueinstellungen, wie WELT berichtete.

„Unter der Oberfläche braut sich eine gefährliche Mischung zusammen“

Zudem wird der Arbeitskräftemangel laut DIHK zunehmend zur Gefahr für die Transformation in Richtung Klimaneutralität. Auch das ist nicht neu. Aber durch die zusätzliche Bedrohung der hohen Energiepreise könnten die immer größeren Personalengpässe bis zur Verlagerung von Produktion und Dienstleistungen ins Ausland führen, warnt Dercks.

„Das Fehlen von Fachkräften belastet nicht nur die Betriebe, sondern gefährdet auch den Erfolg bei wichtigen Zukunftsaufgaben: Energiewende, Digitalisierung und Infrastrukturausbau – für diese Aufgaben brauchen wir vor allem Menschen mit praktischer Expertise.“

Denn in vielen als „Zukunftsbranchen“ geltenden Sektoren ist die Lage dem Bericht zufolge „bedenklich“. Stellenbesetzungsprobleme treffen besonders stark die für die Wettbewerbsfähigkeit bedeutsamen Investitionsgüterproduzenten (65 Prozent) sowie Hersteller von Spitzen- und Hochtechnologie (jeweils 63 Prozent).

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„Das beeinträchtigt wichtige Transformationsaufgaben wie Elektromobilität oder erneuerbare Energien“, heißt es im Report. Auch die Engpässe in Architektur- und Ingenieurbüros (58 Prozent) dürften die Zielerreichung etwa bei klimagerechter Sanierung, der Installation von Windkraftanlagen, beim Wohnungsbau sowie bei Erhalt und Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur demnach erschweren.

Über die Branchen hinweg sehen sich 53 Prozent der Betriebe von Personalengpässen betroffen, in der Industrie und in der Bauwirtschaft sind es jeweils 58 Prozent. Trauriger Spitzenreiter sind wie schon im Vorjahresreport die Gesundheits- und Sozialdienstleister: 71 Prozent von ihnen melden Stellenbesetzungsprobleme. Im Bereich Verkehr und Lagerei suchen 65 Prozent der Unternehmen vergeblich nach Personal. Das hat Auswirkungen auf die meisten anderen Sektoren.

„Das Fehlen von Fahrern bei den Logistikbetrieben erschwert zunehmend die pünktliche Belieferung mit Endprodukten im Handel, aber auch mit Rohstoffen und Vorleistungen in der Industrie“, erklärt Dercks. Abstriche müssen nicht nur die Unternehmen machen, sondern auch die Bürger im Alltag. 60 Prozent der Betriebe im Gastgewerbe finden nicht genug Personal. Eingeschränkte Angebote und reduzierte Öffnungszeiten in Restaurants, Bars und Cafés dürften damit auch in diesem Jahr Normalzustand bleiben.

Chance für weniger gut Qualifizierte

Der allgemeine Mangel führt dazu, dass mittlerweile auch Menschen ohne hohe Qualifikation oder Berufsausbildung gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. 31 Prozent der Betriebe mit Personalproblemen können entsprechende Vakanzen nicht besetzen. Von „enormem Potenzial“ spricht Dercks.

„Sie sind in Branchen wie Verkehr, Sicherheitswirtschaft, Reinigungsdiensten et cetera durchaus gefragt.“ Umso wichtiger seien arbeitsmarktnahe Weiterbildung und Umschulungen. Die Angebote der Arbeitsagenturen müssten gerade für mittelständische Unternehmen einfacher zugänglich werden.

Helfen könnte auch Bürokratieabbau: Mehr als jeder zweite Umfrageteilnehmer hält Entlastungen etwa bei Berichts-, Dokumentations- oder Meldepflichten für sinnvoll. Dadurch könnten sich Beschäftigte intensiver um die eigentlichen betrieblichen Aufgaben kümmern. „Neue Gesetze könnten zum Beispiel daraufhin geprüft werden, in welchem Umfang sie in der Umsetzung Personalressourcen im Betrieb beanspruchen“, schlägt die DIHK vor.

Arbeitsmigration floppt

Um die riesige Lücke zu füllen, setzt die Ampelregierung vor allem auf Migration. 400.000 Arbeitskräfte aus dem Ausland sollen eigentlich offene Stellen besetzen. Bislang ist man nicht ansatzweise an dieses Ziel herangekommen.

So zeigt der Migrationsbericht der Bundesregierung für das Jahr 2021: Nur ein Bruchteil der Migranten, die 2021 aus Drittstaaten nach Deutschland zogen, kamen zu Arbeitszwecken. Laut Bericht zogen in dem Jahr rund 1,3 Millionen Ausländer nach Deutschland, darunter knapp 500.000 von Ländern außerhalb Europas. Rund 40.000 von letzteren erhielten einen Aufenthaltstitel zur Erwerbstätigkeit.

Eine Verbesserung erhofft sich durch erleichterte Einstellung ausländischer Arbeitskräfte immerhin mehr als jedes dritte Unternehmen (35 Prozent). Doch es gibt auch andere Faktoren: 31 Prozent nannten die bessere Qualifizierung und Vermittlung von Arbeitslosen. Knapp ein Viertel der Betriebe fände eine gesteigerte Attraktivität der Region zum Leben und Arbeiten hilfreich, um Beschäftigte zu gewinnen und zu halten.

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Jeweils 22 Prozent plädieren für einen Ausbau der digitalen Infrastruktur, für eine bedarfsgerechte Erweiterung der Betreuungsangebote. Denn dieser Hebel ist enorm: „Die Betreuungslücke für unter Dreijährige liegt immer noch bei fast 270.000“, sagt Dercks. „Würden die aktuell in Teilzeit beschäftigten Frauen ihre Arbeitszeit um durchschnittlich zwei Stunden pro Woche erhöhen, entspräche das rechnerisch etwa 500.000 zusätzlichen Ganztagsstellen.“

Ebenfalls 22 Prozent der Firmen halten eine flexiblere Beschäftigung Älterer für sinnvoll. Die Erwerbsbeteiligung Älterer ist zwar in den vergangenen zehn Jahren deutlich gestiegen, doch mittlerweile stagniert sie, teilweise sinkt sie sogar. Die Finanzierungslücken im Rentensystem drohen zuzunehmen.

In den Babyboomer-Jahrgängen lassen sich kaum noch Anstiege bei der Erwerbstätigenquote verzeichnen, wie aus einer Auswertung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) hervorgeht. Aktuell scheiden viele bereits mit 63 oder 64 Jahren aus dem Arbeitsmarkt aus und damit deutlich vor der Regelaltersgrenze. Weiterhin „Luft nach oben“ sieht Dercks deshalb. „Die ‚Rente mit 63‘ hat leider die falschen Anreize gesetzt und verstärkt Fachkräfteengpässe.“

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Source: welt.de