Umbau an Russlands Schulen: Patriotismus als Pflichtfach

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Seit dem Beginn ihres offiziell als „Spezialoperation“ etikettierten Angriffskriegs gegen die Ukraine machen sich Russlands Machthaber daran, die Gesellschaft nachhaltig umzuformen. Während Massenemigration und Repressionswellen gegen im Land gebliebene Kriegsgegner die europäisch gesinnte Kulturschicht ausgedünnt beziehungsweise mundtot gemacht haben, wurden die Schulen verpflichtet, die nachwachsende Generation zu unbedingter Staatstreue zu erziehen. Zwar besagt Russlands Verfassung, es dürfe keine Staatsideologie geben, doch der Leiter der Präsidialadministration für sozialpolitische Projekte, Sergej Nowikow, bezeichnete schon vorigen Sommer bei einem Onlinetreffen mit Klassenlehrern die bisherige Abwesenheit einer solchen Ideologie als Problem. Infolgedessen habe eine ganze Generation sich von Wertvorstellungen aus anderen Weltgegenden, beispielsweise aus dem „kollektiven Westen“, prägen lassen, sagte Nowikow, der die Pädagogen ermunterte, vor dem Thema Ideologie nicht zurückzuschrecken.

Um Schülern „richtiges Denken“ bezüglich des Ukrainekrieges einzutrichtern, wurde im vergangenen Herbst das neue Schulfach „Gespräche über Wichtiges“ eingeführt. Jeden Montag beginnt der Unterricht nun eine Stunde früher mit einem vom Klassenlehrer zu gestaltenden Zusatzunterricht. Dafür erhielten die Schulen modellhafte Beispieltexte, etwa einen der F.A.Z. vorliegenden Lehrervortrag über die Ukraine, der die Staatspropaganda reproduziert. Demnach gehörten deren östliche Landesteile stets zu Russland, in Kiew habe aber 2014 infolge eines Staatsstreichs ein faschistisches, von Amerika gelenktes Regime die Macht übernommen, das Russland hasse und es früher oder später überfallen hätte. Außerdem wird montags feierlich die russische Fahne gehisst und gemeinsam die Nationalhymne gesungen.

Zwangstherapie beim staatlichen Familienpsychologen

Der Besuch der „Gespräche über Wichtiges“ ist im Prinzip freiwillig, doch wenn Schüler nicht erscheinen, können deren Eltern von der Schulleitung oder dem Jugendamt vorgeladen werden. In Moskau geschah dies der alleinerziehenden Medizininformatikerin Jelena Scholiker, deren zehn Jahre alte Tochter Warwara den Pa­triotismus-Unterricht, aber auch Mathestunden wegen Krankheit verpasste. Scholiker wurde von der Schulleitung einbestellt, im Gespräch machten ihr zwei Vizedirektoren, der Studienleiter und drei Sozialpädagogen Vorhaltungen, dass sie Warwara daran hindere, die „Gespräche über Wichtiges“ zu besuchen. Die Mutter argumentierte, sie unterrichte ihre Kinder, falls sie etwas verpassten, selbst zu Hause, weshalb sie stets gute Noten hätten. Den Patriotismus-Unterricht könne sie, da er aufgezeichnet werde, online mit ihnen nacharbeiten. Doch die Schulleitung ließ das nicht gelten, da die Kinder das Hissen der Flagge und das Abspielen der Staatshymne gemeinsam in Präsenz erleben müssten. Außerdem nahm die Leitung an einem Messenger-Avatar des Kindes Anstoß, der auf Sympathien für die Ukraine hindeutete, sowie an längst gelöschten Chats, die Eltern eines anderen Schülers fotografiert und damit Warwara bei der Direktion denunziert hatten.

Wenig später kamen eine Polizistin, ein uniformierter Vormundschaftsbeamter und ein Geheimdienstler in die Schule, holten Scholikers zweite Tochter, die neun Jahre alte Sonja, aus der Klasse und riefen die Mutter über deren Telefon an, um sie herbeizuzitieren. Dann schleppten sie Scholiker und Warwara auf eine Wache, wo Polizisten und Psychologen des staatlichen Familienzentrums „Harmonie“ die Zehnjährige über ihre politischen Einstellungen und ihren Avatar ausfragten. Bei der darauffolgenden Hausdurchsuchung dokumentierten sie eine Kinderzeichnung mit der Aufschrift „Frieden“ (Mir) und eine vermeintlich proukrainische Glückwunschkarte. Eine Schulkommission kam zu dem Befund, Warwara habe, da sie den Patriotismus-Unterricht versäumte, ein falsches Weltbild entwickelt und ihre Mutter habe ihre Elternpflichten vernachlässigt. Scholiker und ihre Töchter wurden unter Aufsicht des Jugendamtes gestellt und verpflichtet, sich im Familienzentrum „Harmonie“ behandeln zu lassen. Die Mutter berichtet, ihre Töchter, die immer fröhlich und gesund waren, litten jetzt an Schlafstörungen und Albträumen.

Schüler schreiben Briefe an Frontsoldaten in der Ukraine

Etliche Schulen halten Kinder dazu an, an Frontsoldaten in der Ukraine zu schreiben, um sie moralisch zu unterstützen. Zeitungen und das Staatsfernsehen berichten regelmäßig von solchen Aktionen. Die „Komsomolskaja prawda“ veröffentlichte ein ganz im Propaganda-Sprech verfasstes Schreiben eines Siebtklässlers einer militärisch ausgerichteten Kadettenschule im fernöstlichen Chabarowsk: „Sei gegrüßt, Soldat! Du verteidigst die Ukraine vor Nazis und hilfst der Zivilbevölkerung. Wir sind stolz auf euch und eure Siege!“ Der Erste Fernsehkanal zitiert einen Schüler, der schreibt, er und seine Mitschüler unterstützten von ganzer Seele die Soldaten, die durch die Hölle des Krieges gingen und dadurch das ruhige Leben vieler Menschen schützten. Viele Briefe sind mit bunten Panzern, Herzen und Z-Zeichen geschmückt. Die „Rossijskaja gaseta“ druckte immerhin auch den besorgten Brief der kleinen Warja Kuljowa aus einer Dorfschule in der Region Iwanowo: „Ich habe Angst um Euch. Bitte, stoppt den Krieg! Seid vorsichtig, kommt bald nach Hause!“

Aus Schulen und Fachhochschulen in diversen Regionen wird unterdes berichtet, dass Eltern und Lehrer von der Schulleitung verpflichtet werden, für die Armee zu spenden. Andernfalls drohe die Leitung den Pädagogen, eine bestimmte Summe von ihrem Monatsgehalt, etwa das Äquivalent von einem Arbeitstag, einfach einzubehalten. An vielen Fachhochschulen müssen die Studenten Soldatenkleidung nähen. In Syktywkar im nordrussischen Komi weigerte sich die 24 Jahre alte Natalja Rogowa, ein Schneiderlehrling, Kleidung zu nähen, in der jemand andere tötet oder selber stirbt, wie sie sagte. Rogowa berichtet, ihre Studienkolleginnen, die überwiegend minderjährig seien, nähten auch nicht gern Uniformen. Doch die wenigsten wehrten sich – auch weil sie ihren Eltern nicht schaden wollten, von denen viele bei den Sicherheitsstrukturen oder im Staatsdienst arbeiteten.

Vor allem in den Metropolen versuchen einige Qualitätsgymnasien, mit dem Bildungsstandard auch die Fähigkeit des kritischen Denkens unter ihren Absolventen zu bewahren. Davon berichtet am Telefon aus Moskau die Soziologielehrerin Jelena P., die ihre Anstalt als eine Art progressives „Schutzgebiet“ bezeichnet und bittet, deren Namen nicht zu nennen. Viele ihrer Kollegen, zumal Geschichtslehrer, arbeiten mit der von den Behörden verbotenen historischen Gesellschaft Memorial zusammen, sagt Jelena P. Sie selbst habe mit ihrer Klasse die Memorial-Ausstellungen über Frauen im Gulag und von Briefen, die Väter ihren Kindern aus der Haft schrieben, besucht. Die Schule habe in der Vergangenheit öffentliche Veranstaltungen mit Wissenschaftlern, Anwälten, Journalisten organisiert, so die Lehrerin; doch da viele dieser Leute inzwischen emigriert seien oder zu „ausländischen Agenten“ erklärt wurden – und damit für Bildungsveranstaltungen gesperrt –, sei das künftig nicht mehr möglich.

Ihre Schule sei stolz darauf gewesen, dass den weiblich dominierten Lehrerberuf dort viele Männer ausübten, sagt Jelena P. Doch infolge des Krieges habe gerade von ihnen eine ganze Reihe das Land verlassen. Ihre Oberstufenschüler verfolgten die Veränderungen im Land mit großer Unruhe, so die Lehrerin. Wenn sie etwa die russische Verfassung durchnehme, in der das Land als demokratischer Staat definiert werde, der Menschenrechte schütze und wo jedem Festgenommenen ein Anwalt zustehe, merkten sie an, so stehe das auf dem Papier – ohne auf die damit kontrastierende Wirklichkeit, die jedem vor Augen stehe, näher einzugehen. Einige schützten sich auch durch schizophrenes „Doppeldenken“. Die neuen Verbote ähnelten sowjetischen Zuständen, so die Pädagogin, nur dass in der Sowjetunion klare Zensurregeln herrschten, während jetzt Gummigesetze, selektiv angewendet, zu Selbstzensur führten. Äußerst besorgt zeigt sich Jelena P. auch über die staatliche Kampagne gegen „nichttraditionelle sexuelle Orientierung“, die junge Menschen in ihrem Selbstfindungsprozess zusätzlichem Stress aussetze.

Die Kollegen und die Kinder der Lehrerin sind geflohen

Auch die Klassenlehrerin einer siebten Klasse an einem Moskauer Gymnasium, Irina N., versichert, ihrem Schuldirektor gelinge es bisher, den Lehrbetrieb vor behördlichen Zugriffen zu schützen. Irina N., die selbst schon das Rentenalter erreicht hat, ist verzweifelt, dass Gräueltaten, wie sie während des Zweiten Weltkrieges in der Ukraine von Deutschen verübt wurden, dort jetzt von Russen begangen würden. Sie selbst sei zu alt, um sich zu fürchten, sagt Irina N., die „Gespräche über Wichtiges“ seien bei ihr weder Pflicht noch würden sie aufgezeichnet. Doch mehrere jüngere Kollegen sowie einige der besten Schüler hätten mit ihren Eltern das Land verlassen. Der erwachsene Sohn von Irina N. ist nach Armenien geflohen, ihre Tochter, die wegen eines Antikriegsplakats eine Geldstrafe erhielt und von der Polizei verfolgt wurde, ging nach Israel.

Auch in Petersburg finden sich fortschrittliche Gymnasien wie das, an dem die Geschichtslehrerin Galina B. unterrichtet, montags auch die „Gespräche über Wichtiges“. Sie widme diese Stunde einem Wissenschaftsthema, etwa der Raumfahrt oder der unter Stalin verfolgten Genetik, berichtet am Telefon Galina B., die bald ihrem nach Deutschland geflohenen Ehemann folgen wird. Ihren Beruf und ihre Schüler, sagt sie, werde sie schmerzlich vermissen.

Source: faz.net