Nun rächen sich Erdogans Versäumnisse

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Jetzt ist die Zeit für Solidarität und nicht für Kritik an Recep Tayyip Erdogan, findet die Bundesregierung. Ob das Erdbeben den türkischen Präsidenten unter Druck setzen werde, wurde Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) in der Sendung „Hart aber fair“ gefragt. Özdemir schüttelte den Kopf und antwortete: „Das will ich nicht beurteilen, wir müssen jetzt helfen. Das sollen die Menschen in der Türkei beurteilen.“

Von einem Mitglied der deutschen Regierung ist das die richtige Antwort und dazu eine sehr souveräne von einem Politiker, der aus den Reihen der türkischen Regierungspartei AKP so oft angefeindet wurde wie Özdemir. Wer aber nicht den deutschen Staat vertreten muss und die Verhältnisse in der Türkei und Syrien ein bisschen kennt, der kann nicht umhin, festzustellen, dass die Politik des türkischen Präsidenten einiges dazu beigetragen hat, dass diese Naturkatastrophe derart verheerende Folgen hat.

Natürlich – niemand, auch nicht der mächtigste Politiker, kann steuern, ob und wann ein Erdbeben stattfindet und wie stark es ausfällt. Aber es liegt in der Verantwortung der Politik, bestmögliche Vorsorge gegen absehbare Unglücksfälle zu gewährleisten, wozu aufgrund der geologischen Gegebenheiten in der Türkei auch schwere Erdbeben gehören. Erste Eindrücke aus dem Erdbebengebiet deuten darauf hin, dass unter Erdogans Regierung eben nicht genügend Vorsorge getroffen wurde – vor allem in baulicher Hinsicht.

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Auf den Fotos aus der Türkei sind immer wieder völlig unbeschadet gebliebene Häuser neben den Ruinen vollkommen eingestürzter Gebäude zu sehen. Offenbar sind letztere zu schnell und zu billig gebaut worden. Das deckt sich mit dem, was aus dem türkischen Bausektor schon vorher bekannt war. So werden selbst in der Wirtschaftsmetropole Istanbul etwa die Hälfte der Gebäude ohne Baugenehmigung errichtet. All das hat viel mit Erdogans Regierung zu tun.

Erdogan nennt Branche gerne das „Juwel“ der türkischen Wirtschaft

Nach den ebenfalls verheerenden Erdbeben 2011 erklärte Erdogan: „Stadtverwaltungen, Baufirmen und Genehmigungsbehörden sollten jetzt erkennen, dass ihre Nachlässigkeit gleichbedeutend mit Mord ist.“ Und er versprach, alle illegalen Bauten im Land abreißen zu lassen oder nachträglich zu stabilisieren, sowie neue Gesetze, die Neubauten erdbebensicher machen. Doch es dauerte volle sieben Jahre, bis diese Gesetze vorgelegt wurden, und durchgesetzt wurden sie offenbar nur ansatzweise.

Dabei ist Erdogans AKP besonders eng mit der Bauindustrie verflochten. Der Präsident nennt die Branche gerne das „Juwel“ der türkischen Wirtschaft, und immer wieder kurbelte er die Konjunktur an, indem er Baubooms induzierte. Es sind Erdogans wichtigste Verbündete in der Wirtschaft, die die absehbare Katastrophe von heute mitverschuldet haben.

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Und noch in anderer Hinsicht ist der türkische Präsident an den Bedingungen beteiligt, die die Folgen des Erdbebens verschlimmern und ihre Bewältigung erschweren: Auf der syrischen Seite der Grenze war die humanitäre Situation schon vor dem Erdbeben verheerend. Jetzt wird dort umso mehr Hilfe gebraucht, aber sie wird besonders schwer zu koordinieren sein, weil der syrische Staat im Laufe des Bürgerkrieges in ein Mosaik von Herrschaftsbereichen verschiedener Milizen und Terrorgruppen zerfallen ist.

Natürlich ist an der fortlaufenden Katastrophe in Syrien vor allem dessen Präsident Baschar al-Assad schuld, aber Erdogan hat den Staatszerfall im Nachbarland beschleunigt, indem er einerseits die syrischen Kurden angriff, andererseits fromme Kampfgruppen förderte und schließlich selbst einmarschierte. All das ist kein Grund, der Türkei nun nicht zu helfen oder auch nur ein kleines bisschen weniger zu helfen. Aber wissen muss man all das, und sagen darf man es auch.

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Source: welt.de