Türkische Opposition geht ernüchtert in die Stichwahl

Get real time updates directly on you device, subscribe now.


Deniz fühlt sich fremd im eigenen Land. Die Türkei werde „immer arabischer“, findet sie. Falls Präsident Recep Tayyip Erdogan am kommenden Sonntag wiedergewählt wird, würde sie am liebsten auswandern. „Nach der Stichwahl werden wir entscheiden“, sagt sie. „Wenn es schlimm wird, können wir all unseren Besitz verkaufen und in Kroatien, Zypern oder Portugal ein Haus kaufen.“


Friederike Böge

Politische Korrespondentin für die Türkei, Iran, Afghanistan und Pakistan mit Sitz in Ankara.

Nur zwei Wochen ist es her, dass die Anhänger der Opposition voller Hoffnung waren. Dann kam die Wahlnacht vom 14. Mai. Seither herrscht Ernüchterung. Anders als von Meinungsforschern vorhergesagt, lag der Amtsinhaber im ersten Wahlgang deutlich vor seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Der hätte sein Ergebnis trotzdem als Sieg verkaufen können. Noch nie hat es ein Herausforderer geschafft, Erdogan in eine Stichwahl zu zwingen. Stattdessen tauchte Kilicdaroglu vier Tage lang ab.

Auch deshalb hat er Mühe, jetzt noch Zuversicht zu verbreiten. Längst sind die alten Debatten zurück. Die Auswanderungspläne. Die Ängste vor einer Islamisierung der Türkei. Die Sorgen von Aktivisten, vor Gericht gezerrt zu werden. Die Zweifel, ob es überhaupt möglich ist, den autoritären Herrscher Erdogan durch Wahlen von der Macht zu verdrängen. Und die Wut auf jene Mitbürger, die ihn trotz der Wirtschaftskrise abermals gewählt haben.

Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten

Eine Zeit lang hatte Kilicdaroglus inklusive Wahlkampfrhetorik den tiefen Graben verdeckt, der die türkische Gesellschaft spaltet. Für Deniz, die eigentlich anders heißt, ist er nun umso sichtbarer. Auf der einen Seite sieht sie die Anhänger Erdogans. Auf der anderen Seite sieht sie sich selbst: Alevitin, studierte Turkologin, berufstätige Mutter von zwei Kleinkindern, die möchte, dass ihre Söhne später frei entscheiden können, ob sie Atheisten oder Muslime sein wollen.

Türkische Visaagenturen rechnen für den Fall einer Wiederwahl Erdogans mit einem neuen Ansturm. Deniz und ihr Mann haben sich um eine Green Card in den Vereinigten Staaten beworben. Ihr Antrag wurde abgelehnt. Jetzt lernt Deniz Koreanisch. Ihr Großvater hat in den Fünfzigerjahren im Koreakrieg aufseiten der UN-Truppen gekämpft. Deshalb rechnet sie sich Chancen auf ein Stipendium von Südkorea aus. Ihr Mann, ein ausgebildeter Deutschlehrer, bemüht sich seit sechs Jahren vergeblich um eine Stelle als Beamter. Er ist überzeugt, dass Mitglieder von Erdogans AK-Partei bevorzugt würden. „Die Prüfer haben Namenslisten“, sagt er. Wenn es nach ihm ginge, würde die Familie trotzdem bleiben. „Wir müssen noch ein bisschen länger Widerstand leisten. Dies ist schließlich unser Land.“

Vieles spricht dafür, dass Erdogan seinen autoritären Kurs in einer weiteren Amtszeit fortsetzen würde. Denkbar wäre ein Verbot der prokurdischen HDP, der drittstärksten Oppositionspartei. Das Verfahren steht kurz vor dem Abschluss. Auch im Prozess gegen Vizepräsidentschaftskandidat Ekrem Imamoglu steht ein rechtskräftiges Urteil aus. Ihm drohen Haft und ein Politikverbot wegen Beamtenbeleidigung. So könnte Erdogan den beliebten Oberbürgermeister von Istanbul vor der Kommunalwahl im kommenden Jahr von der Wiederwahl ausschließen.

Frauenrechte werden weiter eingeschränkt

Die Frauenrechtsaktivistin Ipek Bozkurt rechnet damit, dass die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft weiter zunehmen würden. „So hat er es die vergangenen zwei Amtszeiten getan. Seine Anhänger scheinen damit glücklich zu sein.“ Je klarer der Wahlsieg ausfalle, desto mehr werde Erdogan sich ermächtigt fühlen. Für die Organisation, die Bozkurt als Anwältin unterstützt, könnte das unmittelbare Folgen haben. Gegen die Initiative „We Will Stop Femicide Platform“ läuft ein Verbotsverfahren. Die Gruppe unterstützt Frauen vor Gericht, die von ihren Ehemännern lebensgefährlich verletzt wurden, und Eltern von Frauen, die getötet wurden.



Source link