Die Lyriktage Frankfurt 2023: Kommt ins offene Feld

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Er stehe früh auf, sagt Michael Lentz: „So um fünf.“ Und schreibe: „Eigentlich eine gute Zeit.“ Die Arbeit an seinem neuen Gedichtband aber sei ihm schwergefallen. Dem Literaturkritiker Michael Braun habe er vor dessen Tod Ende 2022 gestanden, er schaffe nur zwei, drei Worte am Tag. „Das ist doch viel“, habe Braun erwidert. An ihn, einen zentralen Vermittler deutschsprachiger Gegenwartsdichtung, wurde oft erinnert auf den Lyriktagen Frankfurt.

Am dritten Tag des Festivals, das die Stadt mit mehr als vierzig Mitwirkenden zum ersten Mal seit 2019 veranstaltete, mischte Lentz Löwen, Väter, Ölbäume und Chimären, den Herrn, Gesteine und Flüsse zu einem reißenden Textstrom. Ihn interessiere das „Nichtvereindeutigte“, sagte er, das Werden, das im vieldeutigen Titel des Bandes, „Chora“, ebenso steckt wie die Materie, das allmähliche Gedeihen der Sprache, des Kunstwerks und diesmal explizit auch des Dichters: „Man darf nicht vergessen, dass es um etwas Autobiographisches geht.“ Im „Treibenden und Mitreißenden“ seines Flussgedichts sah Lentz Julia Kristevas Semiotisches und Symbolisches am Werk, Sagbares und Unsagbares, die manifeste Außenseite der Sprache, jedem verständlich, und das, was sie nährt und lebendig erhält: „Was ist das pulsierende Prinzip? Kann da etwas stehen bleiben? Das wäre die symbolische Ordnung. Aber das, was stehen bleibt, wird ebenfalls mitgerissen.“

Schlechte Nachrichten für die Verfasser von Liebesromanen

Künstliche Intelligenz kann Semiotisches und Symbolisches auf diese Weise nicht gegeneinander ausspielen. Trotzdem sah Hannes Bajohr menschliche und maschinelle Mischkunst aufziehen. „Autorschaft reduziert sich auf eine kuratorische Funktion“, sagte der Medienwissenschaftler, der eine mit Gedichten Monika Rincks gefütterte Intelligenz hat Texte schreiben lassen. Sie seien schlecht. Aber man lerne etwas über das Programm. Derzeit schreibt es nach Befüllung mit neuer deutschsprachiger Prosa einen Roman. Auch hier beobachtet er: „Es kann nur korrelieren, es kann keine Kausalität.“

Das sind schlechte Nachrichten für die Verfasser von Liebesromanen, denen vorhergesagt worden war, sie müssten bald nur noch aufs Knöpfchen drücken, um das nächste Buch von der Maschine ausspucken zu lassen. Gerade in der Genreliteratur ist eine Kausalität, die den Leser liebend gerne überraschen darf, vor allem aber vorhanden sein muss, nicht ganz unwichtig. Der Autor Jörg Piringer erklärte daher gleich den Turing-Test für erledigt: „Niemand wird glauben, dass ChatGPT ein Mensch oder wirklich intelligent ist.“ Darüber, dass sich „kooperative Praktiken“ mit Chatbots herausbilden würden, war man sich gelassen einig.

Politisches und Persönliches

Maria Stepanova schreibt derweil noch allein. Um den Überfall auf die Ukraine ging es während des Festivals wiederholt, von Anja Utler bis zu Yevgeniy Breyger, zurück an den Weg in den Krieg dachte Stepanova. Die in Berlin lebende russische Lyrikerin, in Leipzig vor Kurzem mit dem Buchpreis zur europäischen Verständigung ausgezeichnet, stellte ihr „Winterpoem 20/21“ vor, verfasst bei Moskau in der Erstarrung der Pandemie, gleich auf den ersten Zeilen mit Anspielungen so vollgestopft wie der Kleiderschrank, der ins winterliche Narnia führt, auch auf ihn scheint Stepanova zu verweisen.

Innerhalb weniger Worte verwandelt sich das Schneetreiben in den Sand der Wüste, wird Puschkins „Prophet“ abgelöst von Nikolai Gumiljows „Verirrter Straßenbahn“, Texten aus der eisernen russischen Literaturreserve zum Verhältnis von Künstler und Staatsmacht, Bürger und Revolution. Sie habe schon vor der Eroberung der Krim das Gefühl einer nahenden Katastrophe gehabt, sagte Stepanova. Der russische Alltag sei von Repression geprägt: „Ich glaube, es ist unmöglich, zwischen Poetischem und Politischem zu unterscheiden.“ So holt sie die äsopische Sprache der Sowjetzeit neu hervor: „Wenn wir über Schnee sprechen, sprechen wir auch über Gewalt.“

Politisches und Persönliches, die reine Kunst, Themen der Zeit: „Ich will dem Gedicht um Gottes willen keine Aufgabe stellen“, hatte Nico Bleutge zur Eröffnung des Festivals gesagt, das Lesung für Lesung bestens besucht war, mit zahlreichen ausverkauften Büchertischen. Da war etwas zu spüren von der unter Lesern auch weiterhin existierenden „Graswurzelbegeisterung“ für Gedichte, auf die Gregor Dotzauer am selben Abend verwies. Dass C.H. Beck von den zwanzigtausend Startexemplaren der Neuausgabe des „Ewigen Brunnens“ durch Dirk von Petersdorff allein in den ersten drei Wochen die Hälfte verkauft hat, zeigt das ebenso wie solche Festivals.



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